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MOSAiC-Expedition

Die Vermessung einer schwindenden Welt

Bild: Alfred-Wegener-Institut/Stefan Hendricks

Die größte Arktis-Forschungsexpedition aller Zeiten beginnt. Der Eisbrecher Polarstern wird dabei ein Jahr lang eingefroren auf einer riesigen Eisscholle entlang des Nordpols driften und Daten sammeln, von denen viele Generationen profitieren werden. 

Nur einige Dutzend Wissenschaftler wohnen an jenem Märztag im norwegischen Ny Ålesund, einem der nördlichsten Dörfer der Welt, als etwas abgelegen im Fjord ein Mann im eiskalten Wasser treibt. Wie von Geisterhand getragen bleibt sein Körper an der Oberfläche. Der Mann im Wasser ist der Potsdamer Atmosphärenforscher Markus Rex vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Als er vor 27 Jahren zum ersten Mal in dieses Dorf auf Spitzbergen kam, war der Fjord, in dem er jetzt liegt, noch eine Landschaft aus Eis und Schnee. Oft durchquerte er sie mit Skiern oder einem Schneemobil. Doch seit nun schon zehn Jahren ist der Fjord nicht mehr zugefroren.

Markus Rex ist der Kopf der MOSAiC-Expedition. Bild: Alfred-Wegener-Institut/Esther Horvath (CC-BY 4.0)

Nach ein paar Minuten rudert Markus Rex dann plötzlich mit seinen Armen zum Ufer und schleppt sich an Land. Begeistert geht er auf die Gruppe zu, die ihn die ganze Zeit über gebannt beobachtet hatte: „Der ist es“, ruft er, „das ist der perfekte Überlebensanzug für unsere Expedition!“ Für das, was sie vorhaben, werden sie die beste Ausrüstung brauchen: Wo sie hinwollen, werden die Temperaturen noch viel tiefer, die Winde noch viel stärker sein.

Am Abend des 20. Septembers werden sie mit dem Eisbrecher Polarstern in See stechen. Ihr Ziel ist die zentrale Arktis. Dort wird das Schiff ein Jahr lang eingefroren im Eis entlang des Nordpols driften. 100 Menschen aus 17 Nationen werden an Bord sein, rund alle zwei Monate wechselt die Besatzung. Das Schiff verwandelt sich in eine mobile Polarstation, angetrieben alleine durch die Naturgewalt des Meereises.

„Wir sind wahrscheinlich die letzte Generation, die eine ganzjährig von Eis bedeckte Arktis erlebt.“

„Die Arktis ist das Epizentrum der globalen Erwärmung. Doch leider wissen wir noch nicht besonders gut, was das in der Zukunft für uns bedeuten wird“, sagt Markus Rex. „Das liegt daran, dass wir kaum Beobachtungen aus der zentralen Arktis haben, aus dem Winter sogar fast gar keine.“ Markus Rex leitet die MOSAiC-Expedition, die zum ersten Mal einen modernen Forschungseisbrecher auch im Winter in die Nähe des Nordpols bringt. Die Klimaprozesse dort sind ein Puzzleteil, das den Forschern fehlt, um bessere Prognosen zum globalen Klimawandel zu erstellen. „Was in der Arktis an Klimaveränderungen passiert, bleibt nicht in der Arktis. Sie ist die große Küche auch für unser Wetter in Mitteleuropa“, sagt er.

Bild: Alfred-Wegener-Institut/Stefan Hendricks

Wohin genau die Eisdrift das Schiff führen wird, ist ungewiss. Eins aber steht schon heute fest: Eine vergleichbare Expedition wird es kein zweites Mal geben. „Wir sind wahrscheinlich die letzte Generation, die eine ganzjährig von Eis bedeckte Arktis erlebt“, sagt Markus Rex. „Wenn es so weitergeht, können wir in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts im Sommer mit einer Jolle vom Hamburger Hafen aus zum Nordpol segeln und dort eine Flasche Champagner aufmachen.“ Bei Segeljollen dürfte es kaum bleiben: Schon heute durchqueren erste Containerschiffe die Nordostpassage auf dem Weg zwischen Europa und Asien. Am Nordpol, an dessen Erzwingung früher reihenweise Menschen gescheitert sind, entsteht gerade eine andere Welt und niemand weiß genau, wie sich die rasante Erwärmung auf das Ökosystem und das Klima auswirken wird.

In Ny Ålesund testet die Gruppe derweil den Aufbau eines gigantischen Zeltes, das auf der Expedition einen Fesselballon beherbergen soll. Mit dabei ist Verena Mohaupt. Die Physikerin zählt zur Generation Polarforscherinnen, die den Fjord am Rande des Dorfes nur als offenes Gewässer kennen. Bei ihr laufen viele Fäden der Expeditionslogistik zusammen, etliche Ausrüstungsteile hat sie ausgesucht, außerdem Pläne erstellt, Handbücher geschrieben und Trainings organisiert. „Als ich diesen Job gerade angenommen hatte, traf ich mich mit Markus Rex auf ein Abendessen in Bremerhaven“, erinnert sie sich. „Zum Essen bin ich damals kaum gekommen, stattdessen füllten sich die Seiten meines Blocks.“. Begriffe wie Treibstoffdepot und Evakuierungswege notierte sie, außerdem die Namen Fedorov, Makarov, Oden und Xuelong II – so heißen die vier Eisbrecher, die die Expedition versorgen und die Teilnehmer austauschen sollen. Am Ende des Abends war ihr klar, dass sie es mit einer logistischen Choreografie zu tun bekommt, wie sie die zentrale Arktis nie zuvor gesehen hat. Immer einplanen muss sie Unvorhergesehenes: „Vieles können wir erst vor Ort entscheiden.“

Der Planer Marcel Nicolaus (Mitte) hat das Forschungscamp auf dem Reißbrett entworfen. Bild: Alfred-Wegener-Institut/Stefan Hendricks

Mit diesem Ort meint sie eine Eisscholle, die zum Anfang der Expedition etwa bei 130 Grad Ost und 85 Grad Nord liegen wird. Sobald der Expeditionsleiter eine Stelle freigibt, an der sich das Schiff einfrieren lässt, und der Kapitän die Maschinen in den Leerlauf stellt, beginnt der spannendste Teil des Vorhabens. Innerhalb weniger Tage errichten die Wissenschaftler eine kleine Forschungsstadt auf dem Eis. Es wird ein steter Wettlauf gegen die Zeit, denn schon bald nach der Ankunft steigt die Sonne kaum noch über den Horizont, bis sie schließlich völlig der Polarnacht weicht. „Während des Aufbaus werden alle mithelfen müssen. Wir bohren dann Löcher, legen Wege an, bauen Zelte auf und verlegen Stromtrassen“, sagt Verena Mohaupt.

Schon heute gibt es eine Art Stadtplan, der vermuten lässt, was sich auf dem Eis abspielen wird. In einem Umkreis von mehreren hundert Metern um das Schiff sollen Messstationen in die Höhe ragen. Im Winter erstreckt sich sogar eine Landebahn auf dem Eis, die Polarstern wird zum Ausgangspunkt für Forschungsflüge. Der Eisbrecher wird zum Zentrum eines Netzes autonomer Messstationen, die sich bis zu 50 Kilometer entfernt befinden.

Der Bremerhavener Meereisphysiker Marcel Nicolaus hat das Forschungscamp auf dem Reißbrett entworfen. Entscheidend sei eine genaue Gebietsaufteilung, sagt er: „Wenn sich niemand an bestimmte Wege und Bereiche halten würde, hätten wir spätestens im Sommer keine ungenutzte Fläche mehr“ – dabei ist unberührtes Eis wichtig für die Forschung. Außerdem soll es rund um das Schiff Bereiche geben, die nicht ausgeleuchtet werden, damit Biologen das Verhalten der Lebewesen in der Dunkelheit frei von Lichtverschmutzung untersuchen können.

Die Logistikerin Verena Mohaupt hat etliche Ausrüstungsteile ausgesucht, Pläne erstellt, Handbücher geschrieben und Trainings organisiert. Bild: Alfred-Wegener-Institut/Esther Horvath (CC-BY 4.0)

„Weil wir auf die großen Zusammenhänge schauen, werden wir mit dieser Expedition Antworten auf eine der wichtigsten Fragen unserer Zeit finden.“

Die Arbeitsbedingungen werden hart. Alle Teilnehmer haben dafür unter zumindest ansatzweise vergleichbaren Bedingungen trainiert. 60 von ihnen waren zwei Wochen lang auf einem Kurs in Finnland – Ende März, wenn am Strand der Insel Hailoutu die Temperaturen unter minus 20 Grad fallen. Das Programm folgt einer strengen Routine: Jeden Morgen nach dem Frühstück gehen die Teilnehmer auf das nahe gelegene Meereis. Wie bei einem ausgedehnten Zirkeltraining arbeiten sie verschiedene Stationen ab: Schneemobil fahren, Eisdicke messen, Eislöcher sägen und Eiskerne ziehen. „Die Teilnehmer haben in Finnland nicht nur eine Menge über die Arbeiten auf dem Eis gelernt“, ist sich Marcel Nicolaus sicher: „Hier hat die Expedition für viele bereits richtig begonnen.“ Von dem Moment an sei MOSAiC mehr gewesen als nur Tabellen, Pläne und E-Mails zu lesen.

Bis zu 50 Kilometer werden die Messstationen von der Polarstern entfernt sein. Mindestens 1,5 Meter muss das Meereis dick sein, um darauf dei notwendige Infrastruktur aufbauen zu können. Grafik: AWI

Die Fragen, denen die Forscher während der Expedition nachgehen wollen, sind eng miteinander verknüpft. Wie entsteht genau das Meereis? Was passiert, wenn die Eisschicht aufreißt und das vergleichsweise warme Ozeanwasser mit extrem kalter Luft in Verbindung kommt? Was macht die Polarnacht mit dem Ökosystem, bevor im Frühjahr explosionsartig neues Leben unter dem Eis entsteht? „Weil wir auf die großen Zusammenhänge schauen, werden wir mit dieser Expedition Antworten auf eine der wichtigsten Fragen unserer Zeit finden – und zwar, warum die Arktis ein Treiber der Klimaerwärmung ist,“ fasst Markus Rex den enormen Anspruch zusammen.

Wenn am 20. September die Expedition losgeht, wird sich zeigen, was die jahrelange Vorbereitung gebracht hat und wie sich ihre Pläne in der unerbittlichen arktischen Realität bewähren. Verena Mohaupt wird auf der bis zum Anschlag beladenen Polarstern wissen, dass die Ausrüstung – komme was wolle – für die nächsten Monate ausreichen muss. Marcel Nicolaus wird wenig später von der Reling aus sehen, was das Eiscamp noch mit seinen ersten Skizzen auf Rechenpapier gemeinsam hat. Und Markus Rex? Womöglich wird er ins Logbuch schreiben, dass die Menschheit noch nie so nah dran war, die Rätsel der zentralen Arktis zu entschlüsseln.

Zum Weiterlesen:

MOSAiC-Expedition (Englisch)

Die größte Artis-Expedition der Geschichte

"Eine gewissen Gefahr müssen wir in Kauf nehmen" - Interview mit der Sicherheitsexpertin der Expedition

Die MOSAiC-Expedition

Kaum eine Region hat sich in den vergangenen Jahrzehnten so stark erwärmt wie die Arktis. Ziel der Expedition ist es daher, ihren Einfluss auf das globale Klima besser zu verstehen. Das Vorbild der MOSAiC-Expedition ist Fridtjof Nansens Fahrt mit dem Holzforschungsschiff Fram in den Jahren 1893 bis 1896. MOSAiC wiederholt die Drift der Fram nun erstmals mit dem modernen Forschungseisbrecher Polarstern, der mit umfangreichen wissenschaftlichen Instrumenten zur Untersuchung komplexer Klimaprozesse ausgestattet sein wird. Die Polarstern wird ab Herbst 2019 rund ein Jahr eingefroren im Eis durch das Nordpolarmeer driften. Auf sechs Fahrtabschnitten werden jeweils rund100 Menschen aus 17 Nationen an Bord sein. Eine internationale Flotte von Eisbrechern, Helikoptern und Flugzeugen versorgt das Team auf dieser extremen Route.

Damit die Expedition gelingt und möglichst wertvolle Daten gewonnen werden, arbeiten unter der Leitung des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) mehr als 70 Institute in einem Forschungskonsortium zusammen. Das Budget beträgt rund 140 Millionen Euro.

Mehr über Fridtjof Nansens Expedition zum Nordpol

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