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Gastkommentar

Es geht ums Ganze!

Credit: Shutterstock/Mind Pro Studio

20 Jahre nach dem PUSH-Memorandum sind wesentliche Ziele der Wissenschaftskommunikation noch immer nicht erreicht – eine Bestandsaufnahme von Carsten Könneker, der das Terrain aus vielen Perspektiven kennt, unter anderem als Chefredakteur von Spektrum der Wissenschaft.

In Robert Musils gewaltigem Romanfragment „Der Mann ohne Eigenschaften“ machen sich sehr wichtige Persönlichkeiten im Wien des Jahres 1913 an die Planung eines für die gesamte Gesellschaft sehr wichtigen Projekts. Worum es bei der „Parallelaktion“ genau geht, bleibt über die rund zweitausend Buchseiten randständig. Zentral ist die Ironie, mit der Musil die Bemühungen der hochdekorierten Generäle, Literaten und Wissenschaftler als Aktionismus ohne greifbaren Kern desavouiert. Im Munde der erlauchten Herrschaften gerinnt die Parallelaktion zunehmend zur hohlen Phrase. Dennoch hat sie das Zeug, allen möglichen Firlefanz hervorzubringen, etwa die Gründung einer Groß-Österreichischen Franz-Josefs-Suppenanstalt.

Ein Schelm, wer denkt, die Wissenschaftskommunikation sei eine Art Parallelaktion unserer Tage. Ausgerufen als „Gemeinschaftsaktion aller wissenschaftlichen Einrichtungen“ der Republik, enthielt das PUSH-Memorandum vom Mai 1999 den heute inflationär gebrauchten Begriff „Wissenschaftskommunikation“ nicht ein einziges mal; dessen Konjunktur stand noch bevor. Etwas schwerfällig wurde das Ganze in der eigenen Gründungsurkunde als „Experten-/Laienkommunikation“ umschrieben – verstanden als die selbstvermittelte Wissenschaftskommunikation aus der Wissenschaft in Richtung einer nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit. Zum 20. Jahrestag des PUSH-Memorandums lohnt sich eine Bestandsaufnahme in Sachen Wissenschaftskommunikation. Waren die Ziele aus heutiger Sicht richtig gesetzt, und wo stehen wir mit der Umsetzung? So lauten die Fragen, die mir als Leitplanken dienen, wenn ich im Folgenden eine Analyse in sechs Punkten vornehme:

1. Wozu das Ganze? Es geht ums Ganze! 
Wissenschaftskommunikation hat höchste gesellschaftliche Bedeutung

Der Autor ist Chefredakteur von „Spektrum der Wissenschaft“. Von 2012 bis 2018 war er Professor für Wissenschaftskommunikation und Wissenschaftsforschung am Karlsruher Institut für Technologie. Von 2012 bis 2015 leitete er als Gründungsdirektor das Nationale Institut für Wissenschaftskommunikation (NaWik). Ab November wird er Mitglied der Geschäftsführung der Klaus Tschira Stiftung. Bild: Spektrum der Wissenschaft

Dem PUSH-Memorandum lag ein paternalistischer Ansatz zugrunde. Die Bürgerinnen und Bürger sollten doch bitteschön mehr Anteil daran erhalten, was die Wissenschaft so alles leistet. In der Präambel ist von mehr „Begeisterung“, ja „Freude an der Wissenschaft“ die Rede, die zeichnenden Chefs der großen Wissenschaftsorganisationen wünschten sich mehr „Vermittlung“, „öffentliche Teilhabe“ und „Legitimation“ sowie mehr Anerkennung der „kulturellen Leistungen“ speziell von Naturwissenschaft und Technik. Nachdem wir sie seither vielhundertfach aus dem Mund wichtiger Menschen vernehmen konnten, vereint all diese Vokabeln heute vor allem ihr feierliches Ausgelutschtsein. Auf der Skala Aufmerksamkeit erzielender Wörter ist ihr Wert auf das Niveau von „Wettbewerbsdruck“ und „Innovationsstau“ geschrumpft. Das ist das eine. Das andere ist: Es geht mittlerweile um viel Grundlegenderes, um Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Dass einzelne Forschungsbereiche oder gar die Wissenschaft als solche binnen nicht einmal einer Generation von Teilen der Gesellschaft zum Gegenstand öffentlicher Verhandlung erklärt würden, konnten die PUSH-Verfasser 1999 nicht vorhersehen. Die digitale Revolution der Netzwerke stand noch aus, und ein von „alternativen Wahrheiten“ befeuerter Populismus schien in aufgeklärten westlichen Demokratien seinerzeit kaum vorstellbar. 

Inzwischen jedoch drehen sich die schlauen unter den zahlreichen Diskussionen über Wissenschaftskommunikation weniger um Scientainment und Verständlichkeit als um gesellschaftliches Vertrauen; ein lesenswerter aktueller Gedankenanstoß etwa stammt von den Wissenschaftsakademien der G7-Staaten. Weder dem PUSH-Memorandum noch dem Perspektivenpapier „Wissenschaft im öffentlichen Raum“, der PUSH-Zwischenbilanz auf halber Strecke bis heute, war dieses Problem eingeschrieben. Der Begriff „Vertrauen“ taucht in beiden Dokumenten nur an einer Stelle – 1999 – auf, allerdings in anderem Zusammenhang, nämlich als Zugpferd für Drittmittelakquise durch Forschende: Das „aktive Werben um Vertrauen, Anerkennung und letztlich finanzielle Unterstützung“ habe bislang nicht zu den offiziellen Aufgaben von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gehört und sei von diesen „nur unzureichend wahrgenommen“ worden, monierten die Spitzen der Wissenschaftsallianz seinerzeit. Wem danach ist, der darf an dieser Stelle aufatmen, denn diesbezüglich haben sich die Perspektiven der Forschenden in den Arbeitsroutinen des Exzellenzdaseins um 180 Grad gedreht. Jedoch müssen wir uns als demokratisch-pluralistische Gesellschaft nicht um das Funder-Vertrauen in einzelne Forschungsprojekte sorgen, es geht ums große Ganze: um den Wert begründeten Argumentierens und Schlussfolgerns auf Basis überprüfbarer Forschungsergebnisse, selbst wenn diese stets unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit stehen, wie es der Wissenschaft nun einmal eigen ist. Um den Wert von Methoden, ihrerseits überprüfbar, die diese Ergebnisse hervorbringen. Ja, um den Konsens darüber, was überhaupt als Grundlage unserer gesellschaftlich-politischen Entscheidungen gelten soll, wenn es um Dinge wie Klimawandel, Feinstaubemissionen oder Masernimpfungen geht. Höher kann Wissenschaftskommunikation in ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung nicht mehr steigen. 

2. Vom Zusatz ins Zentrum!
Noch immer ist der Kulturwandel in unseren Institutionen nicht vollzogen

Die „Experten-/Laienkommunikation“ sei „in Deutschland weniger entwickelt“ als in anderen Ländern, urteilten die PUSH-Autoren. Korrekt. Nur leider hat sich das Blatt seither nicht gewendet, wenn wir den Kern der Sache in den Blick nehmen und den Budenzauber der Science Festivals und die Hochglanzcover der Unimagazine einmal zur Seite schieben. Nach wie vor mangelt es in unseren Institutionen an einer gelebten, unangestrengten Kultur der Wertschätzung für persönliches Engagement von Forschenden in Sachen Wissenschaftskommunikation. Dabei sollte ebendies laut PUSH-Memorandum zu einem „zusätzlichen Merkmal wissenschaftlicher Reputation“ avancieren. Entsprechende Leistungen seien „zusätzlich zur Würdigung der wissenschaftlichen Leistung“ anzuerkennen; die Wissenschaftsförderer sollten eigens dafür ihre Instrumentarien neu justieren.

Das geschah auch vielerorts, ob in Bonn, Hannover oder Berlin, und vielleicht wähnen sich die Spitzen des Systems sogar auf einem guten Weg. Es wäre ein fataler Trugschluss. Denn noch immer gilt in viel zu vielen Fällen: Erst wer seinen Lehrstuhl ergattert hat und als arriviert gelten darf, kann sich zusätzliche Meriten auf dem abseitigen, ja von vielen noch immer als schmutzig wahrgenommenen Kommunikationsterrain in der öffentlichen Arena erwerben. Dann freilich wird man gerne dafür dekoriert. Während der frühen wissenschaftlichen Karriere hingegen erntet, wer ernst macht mit der Wissenschaftskommunikation, noch allzu oft Achselzucken und Stirnrunzeln, ja Spott, Häme oder bittere Denkzettel. Die entsprechenden Berichte junger Forschender, die ihre Zeit und Kreativität auch in Kommunikation „nach draußen“ investieren, ebben nicht ab. „Das Engagement für den Wissenschaftsdialog trägt heute positiv zur Reputation eines Wissenschaftlers bei“, bilanzierte vor 10 Jahren das „Perspektivenpapier“ der Wissenschaftsallianz. Dieser Satz ist geradezu gefährlich, weil er bis heute auf werdende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland nicht zutrifft.

Dass wir speziell in Deutschland noch immer vor einer großen Herausforderung stehen, zeigen die Daten einer Studie mit weltweit rekrutierten Nachwuchsforschenden der MINT-Disziplinen sowie der Wirtschaftswissenschaften: Hiesige Doktoranden und Postdocs verorten sich schlicht nicht in einer Kultur der Wertschätzung für Wissenschaftskommunikation. Nur rund jeder zweite von ihnen stimmte der Aussage zu, dass Wissenschaftskommunikation positiv auf eine wissenschaftliche Karriere einzahle; Kolleginnen und Kollegen, die in anderen europäischen Ländern forschen, äußerten sich hier zuversichtlicher, noch deutlicher solche aus Asien und den USA. Dort bescheinigen acht von zehn Befragten der Wissenschaftskommunikation ein karriereförderndes Potenzial. Die Unterschiede zwischen Ländern bzw. Weltregionen sind dabei stärker ausgeprägt als die zwischen Disziplinen. Überspitzt formuliert: Ob du Ingenieurin oder Biologe bist, ist für die Anerkennung deiner Kommunikation unerheblich. Doch wehe, du forschst in Deutschland! Dann fährst du deine Karriere mit Bloggen, Podcast oder Kinderuni aufs Abstellgleis. 

Der Kulturwandel steht noch immer aus. Dabei müssen nicht alle Wissenschaftler kommunizieren, und schon gar nicht pausenlos – wichtig ist die Qualität der Kommunikation, die aus den Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis erwächst. Aber von genau solcher Kommunikation aus Forschermund brauchen wir mehr. Die Veränderung zu einer Kultur der Wertschätzung ist der harte Kern dessen, was Wissenschaftskommunikation ausmacht. Das hat unlängst sogar die Bundesregierung als Parole ausgegeben: „Wissenschaftskommunikation sollte selbstverständlicher Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens sein“, postulierte sie am 5. April in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen. Na dann mal los!

3. Keine Chefsachen delegieren!
Was Kommunikationsabteilungen nicht leisten können

In einem System mit steilen Hierarchien, feudalen Strukturen und hohem Wettbewerbsdruck wird sich kultureller Wandel nicht durch schöne Worte vor artig applaudierendem Publikum einstellen. Wer die Kommunikationskultur und das entsprechende Verhalten in den Institutionen ernsthaft ändern will, muss ändern, was diesbezüglich in den Institutionen als normal, als Standard gilt. Dies ist Chefsache und gehört mit Blick auf die gesellschaftliche Problemlage (siehe Punkt 1) ganz oben auf die Agenda.

Indes trügt der Eindruck nicht, dass die hohen Entscheider des Wissenschaftssystems das – so schien es oft: für sie leidige – Thema Wissenschaftskommunikation in 20 PUSH-Jahren lieber weg-drückten: in ihre Kommunikations- und Marketingabteilungen. Dort freilich konnte die Wissenschaftskommunikation prächtig gedeihen, und die Abteilungen mit ihr. So wurden wir in der Exzellenz-Ära einem erstaunlichen Aufwuchs an Kommunikation jedweder Art von Universitäten, Clustern und Forschungsorganisationen gewahr. Keine Institution mehr ohne Outreachmagazin, Facebook-Auftritt, Youtube-Channel.

Doch nicht nur können Kommunikationsabteilungen keinen Wertewandel im System Wissenschaft bewirken. Das Delegieren von Dialog in hochgerüstete Stabsabteilungen ist auch keine adäquate Strategie angesichts der eigentlichen Herausforderung, die sich im Social-Media-Zeitalter noch einmal ganz anders darstellt als 1999. Da sie es wie jede andere Gruppe kann, muss auch die Wissenschaft, müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am gesellschaftlichen Ringen um die Entscheidungsgrundlagen politischen Handelns in den digitalen Netzwerken teilnehmen. Diese ersetzen zunehmend die Lobbyhallen der Parlamente. Soziale Medien aber sind Medien für soziale Wesen, für Individuen mit eigenem Gesicht und Beweggründen dahinter. Will sagen: In sozialen Netzwerken glaubwürdig über Methoden (und deren Grenzen!) sowie die eigenen Erkenntnisse und Motive zu sprechen, kann ebenfalls nicht auf Medien- und Öffentlichkeitsarbeiter übertragen werden. Wir brauchen mehr bloggende Bakteriologinnen, twitternde Technikfolgenabschätzer und Juristinnen mit eigenem Youtube-Kanal. Wir brauchen sie für die öffentlichen Diskurse über Wissenschaft, Evidenz und den schlauesten Umgang mit unsicherem Wissen. In einer digital vernetzten Welt mit beliebig vielen Sendern dürfen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Wort, das über ihre Angelegenheiten geführt wird, nicht anderen, zumal populistischen Kräften überlassen (Was die Forschung zwitschern könnte). 

4. Flächendeckend ab Promotion!
Wissenschaftskommunikation will gelernt sein

In den Kommunikationsabteilungen der Institutionen werden wichtige Kompetenzen vorgehalten. Statt sie leitungszentriert in permanenten Reputationsmaximierungsmodus zu versetzen, könnte man sie auch teilweise dafür fruchtbar machen, die Forschenden aus den eigenen Reihen auf deren Wissenschaftskommunikation vorzubereiten, sprich: sie zu schulen, zu coachen oder ihnen schlicht Zeit durch Organisation zu verschaffen. Die PUSH-Unterzeichner hatten bereits erkannt, dass ein verbessertes Anreizsystem allein keine gelingenden Dialoge mit der Gesellschaft befördert: „Hochschulen und Forschungseinrichtungen werden aufgefordert, die notwendige Infrastruktur bereitzustellen sowie Lehr- und Weiterbildungsangebote zu entwickeln, die die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in die Lage versetzen, ihre Arbeit öffentlich zu präsentieren. Dafür bedarf es der Professionalisierung.“ Aha. Und? Haben die Einrichtungen geliefert? Punktuell ja, aber in der Breite mitnichten. Dabei böten solche Schulungen auch eine gute Gelegenheit, sinnvolle Schulterschlüsse zwischen den institutionellen Kommunikationsprofis und den kommunizierenden Wissenschaftsprofis am Ort herzustellen.

Dafür haben andere geliefert. Als Leuchtturmprojekt in Sachen praxisnahe Weiterbildung in Wissenschaftskommunikation darf das 2012 durch die Klaus Tschira Stiftung und das KIT gegründete Nationale Institut für Wissenschaftskommunikation gelten, das inzwischen mehr als 5.000 Personenseminartage im gesamten Bundesgebiet durchführte.* Auch die Lernwerkstätten und Summer Schools von Wissenschaft im Dialog und weitere Initiativen weisen den Weg. Das Ziel muss jedoch lauten: eine flächendeckende Versorgung mit hochwertigen Schulungsangeboten für Forschende ab Promotionslevel. Wer das bewerkstelligen und auf die Spur bringen soll? Auch das ist Chefsache.

5. Die Unbequemen fördern!
Wer Kommunikation sagt, muss auch Journalismus sagen

Wenn wir mehr gute öffentliche Dialoge über Wissenschaftsthemen wollen, brauchen wir nicht nur mehr Forschende, die ihre Expertise einbringen. Nicht minder brauchen wir einen starken Wissenschaftsjournalismus. Diesem obliegt auch die Aufgabe, der Wissenschaft und ihren Protagonisten kritisch auf die Finger zu schauen, so wie es politischer Journalismus mit der Politik und Wirtschaftsjournalismus mit Unternehmen und Verbänden machen muss. Seine Aufgabe erschöpft sich nicht im Übersetzen von Fachchinesisch in geläufiges Deutsch. Im Unterschied zu den Forschenden und zu den Öffentlichkeitsarbeitern sind die Journalisten die einzigen klassischen Akteure ohne institutionelle Anbindung im Wissenschaftssystem. Das macht sie unabhängig. Zu ihren berufsethischen Standards gehören das Vier-Augen-Prinzip, der Grundsatz, mindestens zwei voneinander unabhängige Quellen zu haben, die Sorgfaltspflicht bezüglich der Wahrheitssuche, Fairness und Ausgewogenheit in der Berichterstattung sowie die Nichtbeeinflussung durch persönliche Interessen. Diese Standards einzuhalten, dafür bedarf es ausreichender Ressourcen.

Im PUSH-Memorandum von 1999 wurden Journalisten lediglich an einer Stelle im Vorbeigehen erwähnt: Neue Wege der Wissenschaftskommunikation zu gehen, diese Forderung richte „sich nicht etwa nur an Schulen, Wissenschaftsjournalisten und Wissenschafts-PR-Fachleute, sondern auch und vor allem an die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst“, war da zu lesen. In der Zwischenbilanz „Wissenschaft im öffentlichen Raum“ ein Jahrzehnt später blieb der Wissenschaftsjournalismus ausgespart. Dabei muss, wer Wissenschaftskommunikation denkt, Wissenschaftsjournalismus zwingend mitdenken. Erkannt haben das in der Zwischenzeit die Akademien, die sich in ihrer WÖM1- und WÖM2-Stellungnahme von 2014 bzw. 2017 ausführlich mit der Frage auseinandersetzten, wie qualitativ hochwertiger Wissenschaftsjournalismus angesichts kollabierender Erlösmodelle künftig gesichert werden kann. Aktuell wird im Bundesforschungsministerium und anderswo geprüft, ob die Einrichtung einer Stiftung für (Wissenschafts-)Journalismus einen maßgeblichen Beitrag hierzu leisten könnte. Vielleicht wäre es auch möglich, einen Teil der Rundfunkbeiträge in geeigneter Form für die (Wissenschafts-)Journalismusförderung zu verwenden.

Die Spitzen der Wissenschaftsallianz müssen sich in diese Diskussion persönlich einbringen und wo immer möglich ihren Einfluss für eine Stärkung des Qualitätswissenschaftsjournalismus geltend machen. In einer demokratischen Gesellschaft braucht die Wissenschaft einen funktionierenden Journalismus als eigenes Korrektiv. Ganz konkret könnten sich die großen Organisationen noch entschiedener an Initiativen beteiligen, die aus den Reihen der Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten selbst erwuchsen. Hier sind vor allem das Science Media Center sowie die RiffReporter zu nennen. Auch sollten sie nicht nachlassen darauf zu insistieren, dass im öffentlich-rechtlichen Programm Wissenschaft mehr Sendeplätze erhält. Wissenschaft, nicht Wissen. Auf dass wir irgendwann im heutejournal ganz selbstverständlich den Begrüßungssatz vernehmen: „Heute für die Wissenschaft an meiner Seite ist meine Kollegin ... “ Das entspräche dem Kultur- und Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten erheblich mehr als jeder Bericht von der Frankfurter Börse.

6. Science of Science Communication entwickeln!
Verstehen, was geschieht und was wie wirkt

Wissenschaftskommunikationsforschung ist ein sperriges Wort, und ihre genaue Verortung ist nicht trivial. Irgendwo zwischen Kommunikations- und Medienwissenschaft, Psychologie, Linguistik, Soziologie, Politikwissenschaft, Kulturwissenschaft, Informatik und Fachdidaktik bildet sie sich heraus. Ihre Entwicklung zu fördern, das haben sich die DFG, aber auch große Stiftungen inzwischen auf die Fahne geschrieben; 1999 stand dies noch nicht auf der Agenda. Was aber kann eine Science of Science Communication leisten, wie lauten ihre Forschungsfragen? 

Das eine wäre, ganz konkret nachzuhalten, welche der tausenderlei bunten Initiativen der Wissenschaftskommunikation überhaupt die gewünschten Wirkungen erzielen. Rund 100 Formate, bis hin zu Wanderausstellungen im Schiffsbauch, stehen zur Verfügung und werden unter Einsatz auch öffentlicher Ressourcen eingesetzt. Doch was davon weckt wirklich bei Jugendlichen nachhaltiges Interesse an einem wissenschaftlichen Studium? Was bringt die Menschen wirklich dazu, ihr Verhalten zu ändern – etwa in Sachen Klimaschutz? Was sorgt wirklich für ein tieferes Verständnis von Methoden und Prozessen bei Laien? Was kann konkret Citizen Science hier leisten? Und was ist umgekehrt lediglich Effekthascherei? 

Jenseits dessen gibt es Forschungsfragen von erheblichem gesellschaftlichem Interesse. Zum Beispiel: Wer stößt die Diskurse zu Wissenschaftsthemen in sozialen Netzwerken an? Wer formt sie maßgeblich, und mit welcher Agenda? Welche Wirkungen haben Social-Media-Debatten zu Wissenschaftsthemen etwa in Bezug auf Fragen der Einstellung? In welchen Bereichen unserer Gesellschaft breitet sich Wissenschaftsskepsis aus? Wo und wie entfalten sich Fake News, Desinformation und Pseudowissenschaft besonders wirksam? Inwiefern beflügeln die Algorithmen der Plattformen derlei Tendenzen? Lassen sich KI-basierte Lösungen zur Kennzeichnung entsprechender Inhalte entwickeln? Können KI-Systeme die Flut an Inhalten der Wissenschaftskommunikation für Nutzerinnen und Nutzer sinnvoll kanalisieren? Gibt es Rückkopplungen von Fake-Science-Diskursen auf die Forschungsförderung und damit auf die Forschung selbst? Selbstredend, dass hier auch der Beratungsbedarf groß ist: Besteht die Notwendigkeit von Regulierung? Welche medienpädagogischen Maßnahmen erscheinen sinnvoll?

Dass die Erforschung von Wissenschaftskommunikation auch wichtige Impulse für die Praxis liefern kann, zeigt die psychologische Vertrauensforschung. Aus ihren Befunden lässt sich schließen, dass Forschende ihre Methoden und Motive stärker mit kommunizieren sollten, um gesellschaftliches Vertrauen zu befördern. Eine einseitig auf Exzellenz und Expertise gerichtete Kommunikation hingegen erscheint defizitär.

Kommen wir auf Musil zurück: Trotz aller Aktivität der „bestallten Ausschüsse“ rund um das zentrale Konzil ihrer Führungsriege – die Parallelaktion im „Mann ohne Eigenschaften“ blieb so fragmentarisch wie der voluminöse Roman als solcher. Ihr Leitsymptom war in den Worten von Musils Erzähler die „innere Hohlheit“. Zu viele Sonntagsreden, zu viel Delegieren, zu viel Zinnober. Es sei ferne, dass der Wissenschaftskommunikation ein ähnliches Schicksal beschieden ist. Hier stehen die Nachfolgerinnen und Nachfolger jener PUSH-Unterzeichner von 1999 unverändert in der Pflicht. Denn die selbst auferlegte Aufgabe, Wissenschaft und Gesellschaft besser miteinander zu vernetzen, stellt sich in Folge der digitalen Revolution im Zeitalter „alternativer Wahrheiten“ noch einmal ganz anders.

*Angabe eines möglichen Interessenkonflikts: Der Autor war von 2012 bis 2015 selbst als Wissenschaftlicher Direktor am Aufbau des NaWik beteiligt. Zum November 2019 wird er als Mitglied der Geschäftsführung in die Klaus Tschira Stiftung eintreten.

Weitere Publikationen zum PUSH-Jubiläum

Das unterschätzte Gespräch mit Politik und Gesellschaft (Jens Rehländer / FAZ)

20 Jahre PUSH: Die Zeit war einfach reif dafür (Hannes Schlender / wissenschaftskommunikation.de)

"Man kann immer nur sich selbst ändern, nie die anderen" (Interview mit Johannes Vogel / wissenschaftskommunikation.de)

Vom Verständnis zur Verständigung - Denkanstöße nach 20 Jahren PUSH (Interview mit Volker Meyer-Guckel / Blog "Wissenschaft kommuniziert")

Eine neue Kultur der Wissenschaftskommunikation (Volker Meyer-Guckel / MERTON Magazin)

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