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Kommentar

"Wissenschaft muss für ihre Werte werben"

Prof. Holger Hanselka, Präsident des KIT. Bild: Andrea Fabry, KIT

Muss die Wissenschaft politisch werden, wenn ihre Freiheit bedroht wird? Ein Kommentar von Holger Hanselka, Präsident des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT).

Wir alle kennen aus Kindertagen das Spiel "Stille Post": Ich flüstere meinem Nachbarn einen Begriff ins Ohr, der diesen weitergibt. So geht es reihum von Ohr zu Ohr. Ganz "pfiffige"Mitspieler transportieren nicht nur das, was sie gehört haben,sondern verdrehen ganz bewusst oder fügen Neues hinzu. So sind die Lacher bei der Auflösung am Schluss am größten. Was hat das alles mit der Gesellschaft und schließlich mit der Wissenschaft zu tun?

In der öffentlichen Diskussion ist das bewusste Verdrehen und Verfälschen mittlerweile salonfähig geworden. Den Fakten werden dreist und selbstbewusst "alternative Fakten" entgegengestellt.Im Unterschied zum Stille Post-Spiel fehlt aber die "Auflösung".So erklären simple Darstellungen scheinbar einfach eine immer komplexere Welt. Sie haben wenig Realitätsgehalt, suggerieren aber Orientierung und scheinbare Sicherheit.Das Wissenschaftssystem selbst ist in diesem gesellschaftlichen Prozess nicht nur Beobachter. In den Echokammern sozialer Netzwerke - einst Chance für die Demokratisierung des Wissens - werden Fragen der Forschung zu reinen Glaubens-und Einstellungsfragen. Folgt nach der "Lügenpresse"nun die "Lügenwissenschaft"? So nehmen heute viele Menschen Einschätzungen von Experten als beliebig und interessensgebunden wahr.

Diese Entwicklung beunruhigt, und für die Wissenschafter wächst daraus eine politische Aufgabe. Die Geschichte zeigt, dass der Rückzug in den Elfenbeinturm - die Kultur des Apolitischen und des mit sich selbst Beschäftigens - die falsche Antwort auf antidemokratische Strömungen in der Welt wäre,weil Wissenschaft so leicht zum Spielball von Ideologien würde.Daher ist es ein Gebot der Stunde, dass die Wissenschaft für ihre Werte eintritt und öffentlich für diese wirbt. Diesen Gedanken griffen beispielsweise die sich formierenden Science Marches in mehreren Städten Deutschlands auf.

Die Botschaft der Wissenschaft ist klar: Es gibt einen qualitativen Unterschied zwischen wissenschaftlichen Fakten und persönlichen Meinungen. Wissenschaft liefert verlässliche Informationen, valide und transparent - als Grundlage und Voraussetzung für kritische Debatten und eine fundierte demokratische Entscheidungsfindung. An dieser Stelle endet die politische Aufgabe der Forscherinnen und Forscher. Denn die Entscheidung selbst liegt in der Hand von Politik und Gesellschaft, basierend auf den Fakten der Wissenschaft.Um ihre Funktion in diesem Zusammenspiel optimal zu erfüllen, ist die Wissenschaft auf das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger wie der Politik angewiesen.

Wie werben wir für dieses Vertrauen? Durch einen Wissenschaftsprozess, welcher transparent und ergebnisoffen die verschiedensten Fakten berücksichtigt, durch Wissenschaftler, die sich mit derselben Offenheit wie sie Forschung betreiben, am gesellschaftlichen Diskurs beteiligen. Und durch Maßhalten mit übertriebenen Erfolgsversprechen sowie eine faktentreue Berichterstattung über Erfolge in unserer eigenen Kommunikation, die es vermeidet,kleine Schritte des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses als Durchbrüche zu hypen. So bleibt Platz für Erklärungen, wie Forschungsergebnisse zustande kommen, und warum diese schließlich verlässlicher sind als "alternative Fakten". Ein kompetenter und kritischer Wissenschaftsjournalismus ist hier ein wichtiger Weggefährte.

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