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Neutrino-Waage

Die Vermessung der Geisterteilchen

Blick in das Innere des Hauptspektrometers des KATRIN-Experiments zur Bestimmung der Neutrinomasse (Foto: Markus Breig, KIT)

Neutrinos sind die wohl rätselhaftesten und flüchtigsten Elementarteilchen. In einem aufwändigen Experiment ist es gelungen ihre Masse zu bestimmen. Dadurch hoffen Forscher:innen auch Antworten auf die großen Fragen der Teilchenphysik zu bekommen. 

Ein Sattelschlepper zieht ein Ungetüm aus Stahl langsam durch die kleinen Straßen im Örtchen Leopoldshafen bei Karlsruhe. Die letzten Meter, die der riesige Vakuumtank zurückzulegen hat, sind heikel, denn der Abstand zu den Häusern ist äußerst knapp. Viele Schaulustige verfolgen das Spektakel auf der Straße und aus den Häusern. An den Transport, der im Jahr 2006 stattgefunden hat, erinnert sich jeder, der es gesehen hat. Der silberfarbene Tank ist das Herzstück eines weltweit einmaligen Teilchenphysik-Experiments mit dem Namen KATRIN.

Mit seinen 24 Metern Länge und zehn Metern Durchmesser war das rund 200 Tonnen schwere, zylinderförmige KATRIN-Spektrometer größer als manche der Häuser, zwischen denen es sich hindurchzwängte. Dieses einmalige Hightech-Instrument vermisst extrem genau die Energie von hindurchfliegenden geladenen Teilchen mithilfe von elektrischen und magnetischen Feldern. Je größer der Vakuumtank, desto genauer die Messung – daher dessen gewaltige Ausmaße.

Das Hauptspektrometer von KATRIN mit einer Länge von 24 Metern und einem Durchmesser von 10 Metern auf dem Weg zum Campus Nord des KIT. Bild: KIT

Weltweit gab es noch nie ein Experiment, das mit KATRIN vergleichbar wäre. Es brauchte Jahre, ehe die gewaltige Apparatur aufgebaut war und die Forscher:innen sie richtig justiert und all ihre Eigenheiten zu ihrer Zufriedenheit verstanden hatte. Seit einigen Jahren ist KATRIN inzwischen im Betrieb an seinem Bestimmungsort, wenige Kilometer weiter östlich auf dem Campus Nord des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT).

Das Experiment soll eine seit langem offene Frage aus der Teilchenphysik beantworten: Wie groß ist die Masse der rätselhaften Elementarteilchen namens Neutrinos? Diese Elementarteilchen erfüllen den Raum überall um uns herum in ungeheurer Zahl, treten dabei aber fast gar nicht in Erscheinung. Von allen bekannten Teilchen wechselwirken sie am schwächsten mit Materie. Sie hinterlassen nur sehr selten Spuren. Ein Neutrino, das aus dem All auf die Erde trifft, kann unseren gesamten Planeten durchqueren und ungestört weiterfliegen. Durch die Fläche eines Daumennagels rauschen sekündlich 100 Milliarden der Geisterteilchen.

Dass sie überhaupt eine Masse haben, weiß man erst seit einigen Jahren definitiv: 2015 gab es für diese Erkenntnis den Physik-Nobelpreis. KATRIN nutzt einen Trick, um die überaus flüchtigen Teilchen zu vermessen, ohne sie dingfest machen zu müssen. Das Experiment macht sich den radioaktiven Zerfall des Wasserstoff-Isotops Tritium zunutze – deshalb heißt es auch Karlsruhe Tritium Neutrino Experiment (kurz: KATRIN). Beim Tritium-Zerfall entstehen Elektronen und Neutrinos – und teilen sich die frei werdende Energie. KATRIN lässt die Neutrinos ihres Weges ziehen und vermisst stattdessen die Elektronen. Deren Energie liegt sehr nahe an der größtmöglichen Energie, die im Zerfall freigesetzt werden kann – aber eben nur fast. Der winzige Anteil an Energie, der den Elektronen fehlt, muss in den Neutrinos stecken und erlaubt damit Rückschlüsse auf ihre Masse. Der auch als „Neutrinowaage“ bezeichnete Versuchsaufbau wird gelegentlich „die genaueste Waage der Welt“ genannt – dies ist keine Übertreibung, denn das Neutrino ist das mit Abstand leichteste aller bekannten Elementarteilchen, und KATRIN bestimmt seine Masse genauer als je zuvor.

Die ersten beiden mehrwöchigen Messkampagnen fanden im Jahr 2019 statt. Vor kurzem wurden die Ergebnisse veröffentlicht: Im Februar 2022 berichteten die rund 130 Forschenden der internationalen KATRIN-Kollaboration im Fachblatt Nature Physics, dass die Neutrinomasse kleiner als 0,8 eV/c² betragen muss – dies ist knapp ein Milliardstel der Masse des leichtesten aller Atomkerne, des Wasserstoffkerns.

Die große Bedeutung der kleinen Teilchen

Dabei geht es Guido Drexlin und dem KATRIN-Team um viel mehr als eine Zahl. Denn die genauen Eigenschaften der Neutrinos sind an vielen Stellen in der Physik von Bedeutung. „In meinen Vorlesungen über Kosmologie,“ erzählt Guido Drexlin, „sage ich den Studierenden gern: Wir können das Universum nicht ohne die Neutrinos verstehen, und wir verstehen die Neutrinos nicht ohne eine genaue Kenntnis unseres Universums.“

Da ist zum Beispiel die Frage, welchen Anteil die Neutrinos an der rätselhaften Dunklen Materie haben. In der Astrophysik vermutet man, dass diese unbekannte Substanz alle Galaxien und Galaxienhaufen durchzieht. Ohne eine solche zusätzliche Masse ist die Verteilung und die Bewegung von Galaxien im Universum nicht zu erklären. Auf den ersten Blick sind Neutrinos gute Kandidaten für die Dunkle Materie: Sie haben eine Masse und damit eine Schwerkraftwirkung, wechselwirken aber kaum mit anderer Materie. Allerdings sind sich die AstrophysikerInnen sicher, dass Neutrinos nur einen kleinen Teil der Dunklen Materie ausmachen können.

Doch wie klein genau? Das macht für das Verständnis der Entwicklung des Universums einen bedeutenden Unterschied. „Denn je größer die Neutrinomasse, desto mehr müssten diese Teilchen mit ihrer enorm großen Reichweite das Entstehen der ersten Galaxien im frühen Universum gestört haben,“ erklärt Guido Drexlin. Er und seine KollegInnen erhoffen sich deshalb von KATRIN auch Aufschluss darüber, was sich kurz nach dem Urknall vor etwa 13,8 Milliarden Jahren abspielte.

Physik jenseits des Standardmodells

 „KATRIN wird nicht all diese Rätsel lösen können, denn es lassen sich niemals alle offenen Fragen mit einem einzigen Experiment klären“, sagt Guido Drexlin. Die Masse der Neutrinos zu bestimmen bedeutet gewissermaßen, zunächst ihren Steckbrief zu vervollständigen. Gemeinsam mit weiteren Experimenten sollen den Neutrinos schließlich all ihre Geheimnisse entlockt werden. Guido Drexlin ist zuversichtlich, dass dies gelingen wird: „Es gibt andere experimentelle Ansätze, die sich mit KATRIN ergänzen. Es bleibt festzuhalten: Neutrinos spielen eine wichtige Rolle bei sehr vielen Dingen, die wir heute noch nicht erklären können.“ Deshalb ist es auch so wichtig die Eigenschaften der Neutrinos, wie ihre Masse, genau zu kennen.

Schon die Tatsache, dass Neutrinos überhaupt eine Masse haben, ist nämlich eine Überraschung. Im Standardmodell der Teilchenphysik ist dies nicht vorgesehen. Dieses Theoriegebäude ist enorm erfolgreich, und bildet die Grundlage der modernen Teilchen- und Quantenphysik. „Doch dieses wunderschöne Standardmodell ist nun schon einige Jahrzehnte alt, und seine bekannten Unzulänglichkeiten motivieren uns, nach umfassenderen Theorien zu suchen. Und da ist die Masse der Neutrinos ein erster handfester Hinweis: Da gibt es etwas Neues, jenseits bekannter Theorien.“  Wie groß die unbekannte Masse des Neutrinos eigentlich ist, soll KATRIN herausfinden – als erstes Experiment weltweit.

Nature-Veröffentlichung zur Masse der Neutrinos

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