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Tsunami-Frühwarnsystem

Die entscheidenden fünf Minuten

Tsunami

<b>Ao Nang Beach</b> 26. Dezember 2004: Die dritte und größte Flutwelle erreicht den Strand. Bild: Jeremy Horner/Corbis

Vor zehn Jahren riss ein Tsunami im Indischen Ozean hunderttausende Menschen in den Tod. Inzwischen haben Forscher eines der modernsten Tsunami-Warnsysteme der Welt dort aufgebaut. Es soll den Anwohnern die Zeit zur Flucht verschaffen

Am Vormittag des 11. April 2012 heulen in der indonesischen Stadt Banda Aceh die Sirenen: Tsunami- Alarm. Warnungen tönen aus Lautsprechern, Radio und Fernsehen unterbrechen das Programm, auf den Handys piepen Alarm-SMS. Fluchtartig verlassen Einwohner und Touristen die Strände, Rettungskräfte beginnen mit der Evakuierung. Das Erdbeben, das den Meeresgrund vor Sumatra an diesem Tag erschüttert, ist eines der stärksten seit Beginn der seismologischen Aufzeichnung.

An jenem Apriltag mussten die Anwohner drei Stunden bangen, dann meldeten die Behörden Entwarnung: Nur dank eines geologischen Zufalls hat das gewaltige Erdbeben keinen Tsunami ausgelöst. Die flächendeckende Evakuierung immerhin war der Beweis dafür, dass das Frühwarnsystem funktioniert – und dass es im Ernstfall tausende Menschenleben retten kann.

Jörn Lauterjung. Bild: GPM

Das ist der entscheidende Unterschied zum verheerenden Tsunami im Dezember 2004. Als damals die meterhohen Wellen auf die Küste zuliefen, gab es keinerlei Warnung. Fast eine Viertelmillion Menschen verloren ihr Leben, Banda Aceh glich einer Trümmerwüste. „Da war uns klar, dass wir etwas unternehmen müssen“, sagt Jörn Lauterjung. Für den Geowissenschaftler vom Helmholtz-Zentrum Potsdam, dem Deutschen GeoForschungs- Zentrum (GFZ), begann damals eine gewaltige Herausforderung: Als Projektleiter sollte er mit einem Team aus neun deutschen Forschungseinrichtungen ein Tsunami-Frühwarnsystem im Indischen Ozean aufbauen, das Geld dafür kam aus dem Fonds für die Flutopferhilfe. Lauterjung war trotz aller Herausforderungen von Anfang an zuversichtlich: „Wir hatten die Technik, mit der wir den Menschen vor Ort helfen konnten.“

Es ist ein ausgeklügeltes System, das Geowissenschaftler, Meeresforscher und IT-Experten speziell für die Bedingungen im Indischen Ozean entwickelt haben. Mehr als 160 Seismometer, die im ganzen Land verteilt sind, sowie GPS-Satellitenmessungen liefern ständig die aktuellsten Daten, hinzu kommen Pegelstationen an der Küste und auf den vorgelagerten Inseln, die den Meeresspiegel überwachen. Die Informationen laufen in einem eigens eingerichteten Warnzentrum in Indonesiens Hauptstadt Jakarta zusammen. Dort überwachen Wissenschaftler rund um die Uhr den Indischen Ozean – die High-Tech-Zentrale ist das Herzstück des Frühwarnsystems mit dem Namen „German Indonesian Tsunami Early Warning System“, kurz GITEWS.

Die Technik ist exakt darauf abgestimmt, wie die Tsunami entstehen: Nahezu immer werden sie durch ein starkes Erdbeben am Meeresgrund ausgelöst. Vor der indonesischen Küste treffen zwei Kontinentalplatten aufeinander: Die Indisch- Australische Platte schiebt sich jedes Jahr mehrere Zentimeter unter die Eurasische Platte, wodurch es immer wieder zu Starkbeben kommt. Ein dichtes Netz aus Erdbebenstationen bildet daher den Kern des Frühwarnsystems. Die Seismometer sind so verteilt, dass ein Beben innerhalb von zwei Minuten an mindestens drei Stationen registriert werden kann. Je genauer die Mitarbeiter des Warnzentrums Ort und Stärke des Bebens kennen, desto präziser können sie vorhersagen, wann und wo ein Tsunami eintreffen könnte. Doch nicht jedes Starkbeben hat automatisch einen Tsunami zur Folge. Die Daten aus den Seismometern geben für sich genommen noch keine Auskunft darüber, ob ein Tsunami entsteht oder nicht. Durch GPS erhält das Warnzentrum deshalb auch Informationen darüber, in welche Richtung sich der Meeresgrund verschiebt. Nur wenn sich der Meeresboden während des Bebens anhebt, verdrängt er die darüber befindlichen Wassermassen. In der Folge breitet sich ein Tsunami ringförmig an der Meeresoberfläche aus. Verschiebt sich der Meeresboden dagegen nur seitlich, bleibt die Welle aus – deshalb ging auch das Beben vor Sumatra 2012 so glimpflich aus.

„Ein Frühwarnsystem kann technisch noch so ausgereift sein – Todesopfer werden sich nie ganz vermeiden lassen“

<b>Katastrophenübung </b> Indonesische Schüler beim Tsunami-Drill.

Für die Mitarbeiter im Warnzentrum ist jeder Alarm eine Nervenprobe: Bei einem Beben bleiben ihnen nur fünf Minuten, um die Evakuierung auszulösen. Die Geologie Indonesiens lässt keinen größeren Spielraum zu, denn schon 20 bis 40 Minuten nach einem Beben können erste Tsunamiwellen die Hauptinseln des Landes erreichen, von den vielen vorgelagerten Inseln ganz zu schweigen. Projektleiter Jörn Lauterjung und seine Kollegen konnten deshalb nur bedingt auf die Technik von anderen Frühwarnsystemen im Pazifik zurückgreifen. Auf Hawaii zum Beispiel dauert es in der Regel mehrere Stunden, bis der Tsunami nach einem Erdbeben die Strände erreicht. „In Indonesien hingegen müssen die Behörden extrem schnell und mit nur wenigen Daten darüber entscheiden, ob eine Evakuierung stattfinden soll oder nicht“, erklärt Lauterjung. Weil hunderttausende Menschenleben davon abhängen können, gibt es eine klare Maxime für die Mitarbeiter vor Ort: „Bei allen Warnungen mit unsicheren Daten wird immer vom Worst-Case-Szenario ausgegangen“, sagt Lauterjung.

Alle Daten können die Mitarbeiter im Ernstfall nicht genau auswerten, denn das würde mehrere Tage dauern. Damit sie trotzdem möglichst präzise Entscheidungen treffen können, haben Lauterjung und seine Kollegen ein so genanntes Decision Support System konzipiert. Dessen Kernstück sind Simulationen: Mehr als 3000 Modellrechnungen zu den verschiedensten Szenarien stehen in einer Datenbank zur Verfügung. Ein Computer vergleicht die aktuellen Messungen mit diesen Modellen – und ermittelt so im Ernstfall blitzschnell, welches vorberechnete Szenario der Wirklichkeit am nächsten kommt. Darauf können die Mitarbeiter dann ihre Entscheidungen stützen.

<b>Im Ernstfall vorbereitet </b> Mitarbeiter des Warnzentrums beim Training. Bild: H. Letz/GFZ

Doch trotz der bisherigen Erfolge von GITEWS kennt Jörn Lauterjung die Grenzen der Tsunamiprognosen: „Ein Frühwarnsystem kann technisch noch so ausgereift sein – Todesopfer werden sich nie vollständig vermeiden lassen.“ Evakuierungen sind in Indonesien äußerst kompliziert, denn das Land besteht aus über 17.000 Inseln und langen Küsten, auch die Straßen sind teilweise nur schlecht ausgebaut. Deshalb finden jährlich Evakuierungsübungen statt, außerdem werden die Menschen über das richtige Verhalten bei einem Tsunami geschult. Einen erheblichen Beitrag dazu leisten Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Die Diakonie Katastrophenhilfe etwa erarbeitet zusammen mit Bewohnern in tsunamigefährdeten Regionen Vorsorgemaßnahmen und rüstet sie mit Alarmgeräten aus. Bewährt haben sich auch Risikokarten, in denen Gefahrenpunkte, Fluchtwege und Schutzräume markiert sind. „Die Bewohner sollten Anzeichen eines Tsunami, wie etwa das Zurückziehen des Wassers, erkennen und sofort die Alarmierung und Evakuierung anderer gefährdeter Gemeindemitglieder in die Wege leiten“, sagt Caroline Hüglin, die bis 2007 die Projekte der Diakonie Katastrophenhilfe in Sumatra koordiniert hat. Wenn die Menschen wissen, wie die Tsunami funktionieren, sei das gerade wegen des engen Zeitfensters nach der Warnung die effektivste Schutzmaßnahme, davon ist sie überzeugt.

Indonesien hat mittlerweile den Status eines Regional Tsunami Service Provider und warnt auch andere betroffene Länder in der Region bei Tsunamigefahr. Damit löst es Japan und die USA ab, die bis dahin die Tsunamiüberwachung im Indischen Ozean übernommen hatten. In Zukunft lässt sich die Grenze von fünf Minuten bis zur Warnung viel - leicht noch unterschreiten. Jörn Lauterjung vom GFZ ist optimistisch, dass Tsunami-Frühwarnsysteme schneller werden können. Denkbar sei etwa der Einsatz von zusätzlichen Sensoren und Satelliten, um das gesamte Messnetzwerk zu verdichten. Am Ende bleibt jedoch immer die physikalische Grenze des Machbaren, denn Erdbeben lassen sich nicht voraussagen: „Es muss sich immer erst etwas bewegen, bevor wir es messen können.“

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