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Serie: 25 Jahre Mauerfall

„Im Oktober 89 fuhr ich nach Darmstadt. Zurückkehren wollte ich nicht“

Bahnhof Dresden-Neustadt im November 1989. Bild: Sludge G - flickr (CC BY-SA 2.0)

Im Oktober 1989 fuhr der Dresdner Physiker Wolfgang Enghardt zum ersten Mal in seinem Leben in den Westen. Sein Reiseziel: die Gesellschaft für Schwerionenforschung in Darmstadt. Im Gepäck hatte er eine brillante Idee, die Jahre später die Krebstherapie revolutionierten sollte – und eine Rückfahrkarte. Einlösen wollte er das Ticket nicht. Doch dann kam alles anders

Von Wolfgang Enghardt

Mit einem Reisepass der DDR überquerte ich am 15. Oktober 1989 zum ersten Mal in meinem Leben die innerdeutsche Grenze – in einem Zug auf dem Weg zur Gesellschaft für Schwerionenforschung (GSI) in Darmstadt. Damals war ich mir sicher, dass ich die Rückfahrkarte niemals benutzen würde.

Wie kam es zu dieser Reise, die ich mit vier Kollegen aus dem Zentralinstitut für Kernforschung (ZfK) – einem Vorgänger des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf – antrat? Als im Frühjahr 1989 nach Kooperationsprojekten mit der GSI gesucht wurde, um das Abkommen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Staaten mit Leben zu füllen, habe ich laut „hier“ gerufen. Im selben Jahr hatten drei meiner Kollegen und ich uns bereits mit dem Vater der modernen Ionentherapie, Gerhard Kraft von der GSI, im Zentralinstitut für Krebsforschung in Berlin-Buch getroffen. Zusammen entwarfen wir den Plan, eine am ZfK entwickelte Kamera, mit der sich Positronen detektieren lassen, an den Ionenstrahl der GSI zu bringen. Unser Ziel: Wir wollten eine Methode erarbeiten, mit der man die Reichweite der Ionenstrahlen in lebenden Organismen mit Hilfe der Positronen-Emissions-Tomografie (PET) messen konnte. Gerhard Kraft warb für diese Idee bei allen PET-Zentren der Bundesrepublik – allerdings erfolglos. Alle waren sich einig, dass sie nicht funktionieren könne. Wir waren uns dagegen sicher, dass sie funktionieren müsse, was ja schließlich auch zutraf.

Foto: André Wirsig

1991 – knapp zwei Jahre später – konnten wir am Schwerionensynchrotron der GSI das allererste Experiment durchführen. Es gelang uns, Positronen emittierende Neon-19-Ionen zu erzeugen, sie in einen Plexiglasblock zu schießen und davon PET-Bilder aufzunehmen. Mit diesen Experimenten begann die Entwicklung der Partikeltherapie-PET, von der heute Medizinphysiker sagen: „It was pioneered in Dresden.“ Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit: Alle wichtigen Experimente dazu erfolgten am Strahl der GSI-Beschleuniger.

Doch nun zurück zum Herbst 1989: Während wir also im Oktober 1989 tagsüber intensiv arbeiteten, verfolgten wir abends in der Küche der GSI-Gästebaracke im Fernsehen die Ereignisse in der DDR. Ich zog daraus die Schlussfolgerung, dass es wohl nicht mehr lange dauern würde, bis Deutschland wieder vereinigt wäre. Eine Annahme, die meine Kollegen belächelten. Konsequenterweise benutzte ich schließlich am 29. Oktober 1989 meine Rückfahrkarte von Darmstadt nach Dresden.

Wohl vom Interesse getrieben, ob wir das vorgeschlagene in-beam PET-Experiment durchführen können, besuchten uns am 8. November 1989 die GSI-Forscher Gottfried Münzenberg und Dieter Schardt im ZfK Rossendorf. Sie waren offenkundig mit dem Gesehenen zufrieden. Den Abend des 9. Novembers 1989 verbrachten wir mit Dieter Schardt in einer Gaststätte in Dresden. Wir haben uns gegen 22 Uhr mit vielen Plänen im Kopf verabschiedet. Ich fuhr nach Hause, wo ich meine Frau, wie gebannt vorm „Westfernsehen“ sitzend, antraf. In diesem Augenblick wusste ich, dass es nun eine reale Chance gab, unsere Ideen umzusetzen. Und dass es richtig war, die Rückfahrkarte zu nutzen.

Prof. Dr. Wolfgang Enghardt leitet die Physik-Sektion des Dresdner OncoRay -Zentrums für medizinische Strahlenforschung in der Onkologie an der Technischen Universität Dresden und am Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf (HZDR). Für seine physikalischen Arbeiten zur Verbesserung der Ionentherapie wurde er 2007 mit dem Europhysics Prize ausgezeichnet. Seine Messungen bilden die Grundlage für die Tumortherapie mit Ionen und Protonen, von der heute zahlreiche Krebspatienten profitieren.

Am Montag, dem 3. November erzählt Polarforscher Eberhard Kohlberg an dieser Stelle, wie er den Mauerfall auf der Forschungsstation in der Antarktis erlebte. Als er den ostdeutschen Kollegen gratulierten wollten, wiegelten sie ab: „Wir lassen uns nicht vereinnahmen.“

Einen Zusammenfassung aller Erfahrungsberichte finden Sie auf unserer Übersichtsseite www.helmholtz.de/mauerfall

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