Direkt zum Seiteninhalt springen

Interview

Wird die Welt zum Spiel?

Wikipedia, CC-BY-SA 3.0

Computerspiele sind in der Gesellschaft angekommen. Ist das nun gut oder schlecht? Und ist Gaming vielleicht auch etwas für die Wissenschaft? Wir sprachen mit Jeffrey Wimmer, der das Spielen aus sozialwissenschaftlicher Perspektive betrachtet

Was macht Computerspiele so attraktiv?

Es gibt viele Genres, es ist für jeden Geschmack, jedes Alter und jede Gelegenheit etwas dabei. Es gibt die „casual games“, kleine, kurze Spiele, die das Warten auf die U-Bahn verkürzen. Es gibt hochkomplizierte und komplexe Rollenspiele, die einen über Stunden und Tage in den Bann ziehen. Zudem hat sich die Industrie sehr stark professionalisiert und ausdifferenziert auch in Bezug auf das Marketing. Wenn Sie sich einen Computer oder ein Smartphone kaufen, sind diverse Spiele vorinstalliert. Im Fernsehen sehen Sie Werbung für Computerspiele. Spiele sind allgegenwärtig, sie erreichen ihr Zielpublikum, sie sind sozial akzeptiert.

Wer macht heute mehr Umsatz: die Filmindustrie oder die Computerspieleindustrie?


Das ist so pauschal schwer zu sagen. Es hängt davon ab, welches Land Sie betrachten und was Sie zur Filmindustrie oder zur Computerspielindustrie dazurechnen. Fest steht allerdings, dass manche der sogenannte AAA (Triple A-) Spiele, also Spiele, die mit großem Aufwand produziert wurden, in der Woche ihres Erscheinens bis zu 500 Millionen Dollar Umsatz bringen. Damit sind sie mit großen Hollywood-Blockbustern vergleichbar.

Computerspiele haben besonders unter Eltern und Pädagogen einen schlechten Ruf. Muss sich die Einstellung ändern?

Zunächst möchte ich keine Entwarnung geben. Computerspiele können wahre Zeitfresser sein. Sie können die Spieler immer mehr in ihren Bann ziehen und nicht mehr loslassen. Wichtig ist, dass auch wir Erwachsenen uns selbst und unser Medienverhalten hinterfragen. Computerspiele sind letztendlich Teil des Megatrends der Mediatisierung und Digitalisierung unseres Alltags und der Gesellschaft. Wie lange sitzen wir pro Tag vor einem Bildschirm? Wie steht es mit unserem Fernsehkonsum? Wie oft schauen wir auf unser Smartphone? Wenn wir mit dem Smartphone Arbeits-E-Mails abrufen, ist das in unseren Augen eine ernsthafte Beschäftigung. Doch das Kind neben uns kann das von einer Mediennutzung „nur zum Spaß“ nicht unterscheiden. Der durchschnittliche Online-Spieler, so ergaben unsere Studien, spielt 20 Stunden pro Woche. Das klingt vielleicht viel. Aber jeder Deutsche schaut im Schnitt vier Stunden fern – am Tag. Entscheidend sind hier wie dort die Inhalte: Was wird gespielt, was wird geschaut.

Der schlechte Ruf rührt vielleicht aus der Vermutung, dass Computerspiele Kinder und Jugendliche zu aggressiven Einzelgängern machen. Konnten Sie in Ihren Studien negative Wirkungen feststellen?

Es gibt per se keine direkte Medienwirkung auf die Persönlichkeitsstruktur und das Verhalten von Menschen. Es kommt immer auf den Kontext an, d.h. wer wählt sich welche Spiele aus, wie ist das soziale Umfeld, wann und mit wem wird gespielt etc. Im öffentlichen Diskurs wird ab und zu behauptet, Computerspiele könnten jemanden zu einem aggressiven Menschen machen. Doch so eine einfache Ursache-Wirkungs-Beziehung gibt es nicht. Das Phänomen ist viel komplexer. Es gibt kurzfristige Auswirkungen, d.h. Spieler sind direkt nach dem Spiel erregt, vielleicht auch aggressiv. Aber das hat jeder an sich selbst schon einmal beobachtet, z.B. nach einem Kinobesuch. Dass aber unser Handeln dadurch längerfristig beeinflusst wird, ist zu weit hergeholt.
Was wir aber feststellen ist, dass die Intensität der Nutzung zunimmt. Das führt dazu, dass Gamer intensiv an das Spiel denken, auch wenn sie nicht spielen. Das ist vergleichbar mit einem glühenden Fußballfan, der in Gedanken immer bei seiner Mannschaft ist, auch wenn er diese gerade nicht im Stadion anfeuert. Der Stellenwert der Spiele im Alltag der Menschen nimmt also zu. Ein immer größer werdender Teil der Gesellschaft kann sich ein Leben ohne Computerspiele nicht mehr vorstellen.

Also doch eher anders herum: Sind Computerspiele gut für uns?

Das Spielen per se ist wichtig für uns Menschen, es zählt zu den ältesten Kulturtechniken. Der Spieltrieb ist uns angeboren. Spielphilosophen wie Johan Huizinga oder Roger Caillois zeigten in ihren Analysen, dass das Spielen untrennbar mit unserer Sozialisation und Identität verbunden ist. Wir sind doch alle empfänglich für Spiele. Das gilt selbstverständlich auch für Computerspiele. Gerade für Kinder und Jugendliche schaffen Computerspiele Freiräume für die Identitätsfindung.
Ich sehe noch ein weiteres großes Potenzial. Die Spiele eröffnen die Möglichkeit, vor allem die sogenannten Digital Natives für bestimmte Themen zu sensibilisieren, sie betroffen zu machen. Derzeit entsteht der Trend der „serious games“. Das sind Spiele, die nicht der reinen Unterhaltung dienen. Sie übernehmen die Funktion der traditionellen Massenmedien, nämlich zu informieren. Die Spieler können in einem Spiel beispielsweise nacherleben, was es heißt ein syrischer Flüchtling zu sein. Da diese Spiele subjektiv auf der emotionalen Ebene ansprechen, vermitteln sie Informationen für den einen oder anderen eingängiger als die anonym wirkenden Zahlen der Flüchtlingsstatistiken oder die abschreckenden, vielleicht sogar abstumpfenden Bilder im Fernsehen. Das große Potenzial ist gekoppelt an ein Risiko. Gerade weil die Spiele auf die emotionale Ebene abzielen, können sie verstörend wirken. Dies kann besonders der Fall sein, wenn Kinder und Jugendliche Spiele spielen, die nicht ihrem Alter entsprechen. Für ein gesundes Spielerlebnis muss der Spieler eine notwendige Distanz zum Geschehen einnehmen können. Dafür ist immer ein Wissen über die Hintergründe und Kontexte, ein gewisses Maß an Medienwissen und Medienkompetenz, nötig.

Sind Computerspiele geeignet, den Menschen wissenschaftliche Fragestellungen und Erkenntnisse näher zu bringen und sie auch in das wissenschaftliche Arbeiten mit einzubeziehen (Stichwort Citizen Science)?

Computerspiele sind eine tolle Möglichkeit, Einstellungen, Verhalten und Wissen einzuüben. Die Wissenschaft kann sich hier etwas abschauen. Den Nutzen von Computerspielen für Citizen Science sehe ich etwas skeptisch. Viele Konzepte sind im Umlauf, aber der Erfolg hält sich in Grenzen. Ich sehe die Schwierigkeit vor allem darin, dass diese Spiele nicht wirklich Spiele sind, sondern einen ernsten Hintergrund haben. Das Spiel ist nur eine Verpackung. Man steckt also in einem Dilemma: Sagt man den Spielern vorher, dass sie an einem Forschungsprojekt teilnehmen, verliert das Spiel als Spiel seinen Reiz. Sagt man es den Spielern hinterher, sorgt man für Verdruss.

Wenn Sie einen Blick in die Zukunft wagen – was bleibt und was wird kommen?

Der Computerspielemarkt ist schnelllebigen und sich ständig ändernden Modetrends unterworfen. Doch vieles aus der Anfangszeit hat sich erhalten und wird bleiben, sicher auch weil es stilprägend für die gesamte Branche war. Ich denke, gerade die Sports Games wird es immer geben. „Pong“, DAS Spiel der Achtziger können Sie immer noch spielen, nun natürlich in 3D mit toller Grafik.
Für die Zukunft könnte ich mir vorstellen, dass die Spiele mehr und mehr crossmedial werden. Zum einen wird es Spiele geben, die verschiedene Ebenen einschließen, d.h. verschiedene Genre miteinander verknüpfen, so dass die Menschen länger im Spiel bleiben: Ich vertreibe mir die Wartezeit mit einem „casual game“, später treffe ich mich mit Freunden in einem Strategiespiel. Daneben gibt es Nachrichteneinblendungen aus der realen Welt, wo gibt es Staus, wann fährt die nächste U-Bahn. Zum anderen werden wir Datenbrillen tragen, die das Spiel in die Realität holen, die Realität wird zur Projektionsfläche für das Spiel. Hier gibt es bereits unter den „urban games“ eine Vielzahl von innovativen und kreativen Ansätzen. Virtuelle und reale Welt verschmelzen mehr und mehr miteinander. Die Zukunft bleibt spannend.
Jeffrey Wimmer ist Juniorprofessor für sozialwissenschaftliche Aspekte digitaler Spiele und virtuellen Welten. An der Technischen Universität Ilmenau erforscht er die Nutzung von Computerspielen und ihre sozialen Folgen. Computerspiele, so sagt er, sind Teil des Megatrends der zunehmenden Digitalisierung und Mediatisierung unserer Welt. Wie bei der Nutzung anderer Medien kommt es auch beim Spielen auf die Inhalte und die Kontexte der Nutzung an.

Artikelserie zur Digitalisierung

Wie beeinflusst die zunehmende Digitalisierung unser Leben? Erledigen vernetzte Kühlschränke bald unsere Einkäufe? Werden wir gesünder durch digitale Pulsmesser und elektronische Kalorienzähler? Oder bequemer und kränker durch selbstfahrende Autos? Und wohin führen die offensichtlichen Sicherheitslücken im weltweiten Netz?

Diese und andere Fragen beantworten wir in unserer Online-Serie zum Thema "Big Data und der Einfluss der Digitalisierung auf unser Leben". Einmal im Monat veröffentlichen wir an dieser Stelle begleitend zum diesjährigen Wissenschaftsjahr "Die digitale Gesellschaft" einen Beitrag zu Themen, die uns alle angehen. Was denken Sie über das Thema? Diskutieren Sie mit.

Big Data-Serie

Leser:innenkommentare