Helmholtz weltweit
„Wir sehen, hören und fühlen den Klimawandel“
Bis zu zwei Wochen kann es dauern, bis Doris Abele ihren Arbeitsplatz - die Polarforschungsstation Carlini, erreicht. Hier, am nördlichsten Zipfel der Antarktischen Halbinsel, erforscht sie, wie sich die Gletscherschmelze auf den Lebensraum dieser Küsten auswirkt.
Auf ihrer ersten Reise in die Antarktis im Jahr 1995 zeigte ein Kollege der Klimaforscherin Doris Abele auf einem Monitor die stetig ansteigende Kurve des Kohlenstoffdioxidgehalts in der Atmosphäre. „Kommt das von den Dieselgeneratoren unserer Forschungsstation?“, wunderte sich Abele. Die Antwort: „Nein, wir messen viel weiter oben in der Atmosphäre.“
Damals war Kohlenstoffdioxid (CO2) in der breiten Öffentlichkeit noch kaum ein Thema, man machte sich zunächst mehr Gedanken über das wachsende Ozonloch. Ein paar Jahre später begriff Abele, die am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven arbeitet, dem Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, welche weitreichenden Auswirkungen genau diese Kurve auf das Ökosystem in der Antarktis hat. Die sogenannte Keeling-Kurve, die ihr der Kollege damals zeigte, gilt heute als wichtiger Beleg für die vom Menschen verursachte Erderwärmung.
Die argentinische Carlini-Forschungsstation liegt an der Spitze der westantarktischen Halbinsel: „Wenn Sie die Karte der Antarktis jetzt vor sich hätten, dann würden Sie da eine Nase sehen, die in Richtung Südamerika zeigt“, beschreibt Doris Abele die Lage der Station, die vom argentinischen Antarktischen Institut und der nationalen Antarktisbehörde betrieben wird. Ein klein wenig westlich von der Spitze dieser Nase liegt die Insel King George, auf der sich die Station Carlini und das mit dem Alfred-Wegener-Institut (AWI)gemeinsam betriebene Dallmann-Labor befinden. Zur deutschen Antarktisstation Neumayer III sind es von hier aus knapp sechs Tagesreisen.
Seit den 1990er-Jahren zieht es die heute 61-jährige Biologin immer wieder in die Antarktis: „Landschaftlich kann es hier sehr schön sein“, schwärmt sie. „An manchen Tagen liegt die Bucht glatt wie ein Spiegel vor einem, dahinter der glitzernde Gletscher.“ Solche idyllischen Eindrücke täuschen über das anstrengende Leben vor Ort hinweg: Wenn man sich der Carlini-Station vom Wasser aus nähert, erblickt man als Erstes eine Gruppe steil aufragender Felsen – Überbleibsel eines Vulkanausbruchs in grauer Vorzeit. Am Fuße dieser Felsformation steht ein Dutzend rot gestrichener Häuschen auf Metallstelzen, die sich bei genauerem Hinsehen als aufeinandergestapelte Containergebäude entpuppen.
In jedem Container kommen vier Forscher unter, die wie in einer Jugendherberge in Doppelstockbetten schlafen. Deutsche Wissenschaftler dürfen nur im antarktischen Sommer von November bis April auf der Carlini-Station forschen, zu dieser Jahreszeit ist die Station „pickepackevoll“ mit 40 Wissenschaftlern und 50 Militärangehörigen. „Einsam fühle ich mich da nie“, schildert Doris Abele. „Jeder kennt jeden, und es herrscht ein sehr freundlicher Umgang.“ Der antarktische Winter mit bis zu minus 20 Grad ist den Logistikern des argentinischen Militärs und ein bis zwei argentinischen Forschern vorbehalten. Abele erlebte die eher milden Sommertemperaturen von minus acht bis plus sieben Grad. Für Lebensmittel sorgt das argentinische Militär, das die Station einmal im Jahr mit einem eisgängigen Frachtschiff ansteuert. „Dann müssen Militärs und Wissenschaftler gleichermaßen die einzelnen Kisten mit Mehl, Nudeln, Konserven, Zucker und Wurst vom Strand in die Station tragen.“ Frisches Obst und Gemüse gibt es auf der Station nicht. „Ich stürze mich da immer auf jeden verschrumpelten alten Apfel, den jemand mitbringt“, lacht Doris Abele.
"Die Gletscherschmelze in der Antarktis lässt den Meeresspiegel auf der ganzen Welt ansteigen."
Auf einer Insel im Südozean gelegen, ist die Carlini-Forschungsstation nur per Schiff oder per Flugzeug erreichbar. Bis 2005 konnten kleine Flugzeuge vom Typ Twin Otter direkt auf dem Gletscher an der Station landen. Mit dem Klimawandel aber haben sich so viele Risse und Spalten aufgetan, dass eine Landung unmöglich geworden ist. "Auf einem Helikopterflug habe ich gesehen, wie zerklüftet dieser Gletscher geworden ist: wie ein Sieb!" Die Region ist ein Hotspot der Klimaerwärmung: Während die Temperaturen in den vergangenen 100 Jahren global um 0,8 Grad gestiegen sind, betrug die Erwärmung an der Spitze der Antarktischen Halbinsel rund drei Grad. „Das ist ein nie da gewesener Temperaturanstieg.“ Gemeinsam mit ihrem Kollegen Gerhard Kuhn vom AWI hat Doris Abele den Rückzug des Gletschers seit dem Ende der Kleinen Eiszeit erforscht. Der Einfluss, den die Antarktis auf den Rest des Planeten hat, sei enorm, so der Geologe: "In der Antarktis liegt die größte Eismasse der Welt." Doris Abele bekräftigt: "Die Gletscherschmelze in der Antarktis lässt den Meeresspiegel auf der ganzen Welt ansteigen."
Seit ihrer ersten Expedition in die Antarktis hat Doris Abele deutliche Veränderungen registriert: "Als ich 1995 zum ersten Mal dort war, habe ich nichts von dem Gletscher hinter der Station gehört, es herrschte eisige Stille." 20 Jahre später war in der ganzen Bucht ein ständiges Rumsen und Donnern von den zerberstenden Eisblöcken zu hören. "Wir sehen, hören und fühlen den Klimawandel", sagt die Wissenschaftlerin.
Von Jahr zu Jahr konnten die Forscherin und ihre Kollegen beobachten und messen, wie die Eisfront des Gletschers zurückwich und an Höhe verlor. "Früher bin ich mit meinem Eisbehälter zu Fuß zum Gletscher gestapft und habe mir Eis zum Kühlen meiner biologischen Proben geholt", erzählt sie. Inzwischen hat sich der Gletscher so weit zurückgezogen, dass sie einen halben Tag bis zu seinen Ausläufern brauchen würde. Satellitenbilder zeigen, dass vor allem der seeseitige Teil des Gletschers im Laufe von 60 Jahren um nahezu einen Kilometer abgeschmolzen ist. Seit 2016 befindet sich dieser Gletscher nur noch auf dem Land und ragt nicht mehr in die davorliegende Bucht.
Internationale Aufmerksamkeit erregte vor zwei Jahren die Nachricht, dass ein 175 Kilometer langer Eisberg vom Larsen-C-Schelfeis in der Antarktis abgebrochen sei. Solche Nachrichten kann Doris Abele unmittelbar einordnen, denn sie ist im Laufe ihrer Karriere zu einer Kennerin der Bedingungen in der Antarktis geworden. Insgesamt zwölf Mal war Abele auf der Carlini-Station, jeweils für mehrere Monate. Zusammengerechnet, sagt sie, sind es drei Jahre ihres Lebens gewesen. Für ihre beiden inzwischen erwachsenen Söhne war es oft schwierig, dass sie zwischen Bremerhaven und der Antarktis pendelte, räumt Doris Abele ein. Für Wissenschaftler sei das Leben in einer Forschungsstation jedoch ideal: "Wenn ich möchte, kann ich mich Tag und Nacht in die Arbeit vertiefen. Das ist für einen Wissenschaftler – ähnlich wie für einen Künstler oder Schriftsteller – ein großer Luxus."
In ihrer Forschung konzentriert sich Doris Abele auf die Frage, ob und wie sich antarktische Organismen und Lebensgemeinschaften an veränderte Umweltbedingungen anpassen können. "Wenn sie mit den Bedingungen nicht mehr klarkommen, verändert sich das Artenspektrum", so die Forscherin. "Vor allem interessiert uns, wie die neuerdings eisfreien Flächen unter Wasser von Algen und marinen Tieren wie Seescheiden, Schwämmen und Schnecken besiedelt werden. Besiedlung, Wachstum und Umsatz von organischem Kohlenstoff in den flachen Küstenbereichen sind stark vom Temperaturanstieg und dessen Folgen beeinflusst."
"Wenn wir nichts tun, wird die westliche Antarktis irgendwann so aussehen wie Südamerika heute."
Jetzt will Doris Abele eine Region weiter nördlich erforschen: den Beagle-Kanal zwischen Argentinien und Chile. Wegen des argentinisch-chilenischen Grenzkonflikts der vergangenen Jahrzehnte wurde diese Wasserstraße bisher zu wenig untersucht. Die politische Lage hat sich nun so weit entspannt, dass Forscher aus Argentinien, Chile, den USA und Deutschland erstmals versuchen, ein Messnetz zu installieren, um Umweltveränderungen im Beagle-Kanal zu erfassen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das sogenannte Dynamo-Projekt mit 300.000 Euro in der ersten Projektphase.
Für Doris Abele stellt sich ihre Forschung auf dem südamerikanischen Kontinent als Zeitmaschine dar: "Wenn wir nichts tun, wird die westliche Antarktis irgendwann so aussehen wie Südamerika heute", sagt sie mit Blick auf die
dramatischen Folgen des Klimawandels: "Gräser und Pflanzen wachsen, Menschen siedeln sich an und züchten Schafe." Schon jetzt beobachten Forscher, dass sich um die Carlini-Forschungsstation eine Humusschicht bildet. Was wie ein idyllisches Bild aussehen könnte, hätte jedoch für das antarktische Ökosystem drastische Folgen: Organisches Material, welches vom Land ins Meer geschwemmt wird, ist anders zusammengesetzt als mariner "Kompost". Im Küstenbereich würde dies die Nährstoffverhältnisse und die mikrobiellen Stoffumsätze ändern, Kelpwälder würden sich ausbreiten. In der Antarktis beheimatete Organismen, die auf eine nährstoffarme Umgebung angewiesen sind, müssten sich neue Lebensräume suchen. "Dann gibt es dort keinen Krill und schließlich auch keine Pinguine mehr", so Doris Abele.
Einig sind sich Doris Abele und Antarktisforscher aus der ganzen Welt in einem Punkt: Solange der Mensch weiterhin ungebremst CO2 freisetzt und die Keeling-Kurve weiter ansteigt, schmelzen auch die Gletscher in der Antarktis unaufhaltsam weiter ab – mit weitreichenden Folgen für das ökologische Gleichgewicht auf der Erde und für die Menschheit.
Die Helmholtz-Klimainitiative
Seit Beginn der Industrialisierung ist die globale Durchschnittstemperatur um mehr als 1 Grad gestiegen. Wie entwickelt sich das Klima weiter? Was sind die Folgen? Kann es uns gelingen, die Treibhausgase deutlich zu reduzieren und so die Erderwärmung zu stoppen? Diese und viele weitere Fragen beschäftigen die Wissenschaft.
Im Rahmen der Helmholtz-Klimainitiative werden Wissenschaftler in völlig neuen Forschungsprojekten ihre Klimaforschung vorantreiben und sich neu vernetzen, um den klimatischen Wandel ganzheitlich zu erforschen.
Auf unserer Themenseite haben wir Informationen und Antworten zusammengestellt.
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