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Green Deal Ukraine

Wiederaufbau in Grün

Bild: Shutterstock/Allexxandar

Trotz des Krieges hält die Ukraine an ihren Klimazielen fest. Ein neuer Thinktank will das Land dabei in Energiefragen beraten, das Helmholtz-Zentrum Berlin ist Wegbereiter des Projekts.

Die Sinnfrage stellt sich Susanne Nies erst gar nicht: Selbstverständlich sei es richtig, die Energiewende in der Ukraine zu planen – auch und gerade jetzt, während der Schrecken des russischen Angriffskrieges. „Denn was wäre denn die Alternative? Wir können doch nicht sagen: In der Ukraine wartet die Klimawende bis zum Ende des Konflikts“, sagt die Energieexpertin und Projektleiterin am Helmholtz-Zentrums Berlin (HZB). Auch das Land selbst hält an seinen Klimazielen fest: Bis 2035 soll der Kohleausstieg gelungen sein, 15 Jahre später, im Jahr 2050, will die Ukraine 90 Prozent ihres Stroms aus klimaneutralen Quellen gewinnen.

Damit das gelingt, brauche das Land jetzt gut ausgebildete Fachkräfte und zuverlässige Daten, argumentiert Nies. Deshalb hat sie gemeinsam mit Partnerinstitutionen in der Ukraine und Polen das Projekt Green Deal Ukrainegegründet. Sein Ziel ist der Aufbau eines Thinktanks für Energie- und Klimafragen in Kiew. Er soll Modellrechnungen und Analysen für Entscheider in Politik,  Wirtschaft und Zivilgesellschaft liefern. Geplant sind außerdem spezielle Weiterbildungsprogramme, denn die Entscheidungsträger im Energie- und Klimabereich der Ukraine sind zwar sehr gut qualifiziert, ihnen fehlt aber oft das Fachwissen über die Anforderungen der EU, über Energiesystem-Fragen oder auch über erneuerbare Energiequellen.

80 Prozent der Windräder stehen in besetztem Gebiet

Hier will das Land nun rasch aufholen, schließlich möchte es baldmöglichst der EU beitreten – dazu aber muss es auch den Anteil der Erneuerbaren in seinem Energiemix deutlich erhöhen: Vor dem Überfall Russlands lag er bei gerade einmal zwölf Prozent, bis zum Jahr 2035 soll er nun auf 25 Prozent steigen.

Bild: HZB

Eine gewaltige Aufgabe, schließlich greift Russland das Energiesystem der Ukraine gezielt an: Militärschläge treffen Gas- und Stromleitungen, zerstören Kraft- und Umspannwerke.  Außerdem stehen mittlerweile 80 Prozent der Windräder im besetzten Gebiet, auch jede dritte Solaranlage gilt als verloren. Diese hohen Materialverluste erklären sich auch geographisch: Im Süden und Osten des Landes standen bislang die meisten Windkraft- und Photovoltaikanlagen der Ukraine, denn dort ist ihre Ausbeute am höchsten. Nun sind diese Regionen stark umkämpft oder sogar besetzt. Zuletzt hat die Zerstörung des Staudamms in Kachowka  im Juni international Aufsehen erregt: Schon gleich am ersten Tag des Krieges wurde dieses bedeutsame Kraftwerk von Russland besetzt. Es trägt gemeinsam mit neun anderen sehr großen Wasserkraftwerken etwa sechs Prozent zur Stromproduktion beiund spielt zudem eine wichtige Rolle für die Stabilität des Energiesystems in der Region, seine unwiederbringliche Zerstörung  birgt auch große Gefahren für die Sicherheit des ebenfalls besetzten, gigantischen Atomkraftwerks Saporischschja.

Im Rest des Landes aber soll der Wiederaufbau des Versorgungssystems Hand in Hand gehen mit dem Ausbau der Erneuerbaren. „Build back better“ heißt der Ansatz, der immer wieder erwähnt wird: Als Industrieland will die Ukraine künftig stärker auf Nachhaltigkeit setzen und dabei eng mit der EU zusammenarbeiten. „Dabei spielt auch die Zivilgesellschaft eine wegweisende Rolle: Anders als zum Beispiel in Polen ist die Klima- und Umweltbewegung in der Ukraine sehr aktiv“, erklärt Nies. „Zusammen mit den Vorgaben der EU treibt sie die Regierung zum Handeln und fordert Transparenz und Teilhabe ein.“

Bei Reperaturen an der Infrastruktur ist Flexibilität gefragt

Den Prozess der Energiewende  will das Projekt Green Deal Ukraine mit Know-how unterstützen: Die Energieexperten des HZB arbeiten dafür mit Instituten in Polen und der Ukraine zusammen, außerdem ist eine ukrainische Umweltschutzorganisation und ein in Kiew ansässiges Fortbildungszentrum für Energiefragen beteiligt.

Finanziert wird das Projekt durch Fördermittel des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, Susanne Nies hat es gezielt bei Helmholtz verankert: Die Politikwissenschaftlerin hat zuvor über viele Jahre bei internationalen Thinktanks und Unternehmen der Energiebranche gearbeitet. Mit Ausbruch des Krieges aber entschied die Managerin, die selbst fließend Russisch spricht und viele Freunde in Russland, der Ukraine und Osteuropa hat, dem angegriffenen Land zu helfen – in ihrem Fachgebiet, dem Energiesektor. „Für mich war dabei von Anfang an klar, dass für dieses Projekt in Deutschland nur Helmholtz als Träger in Frage kommt: Der  Forschungsbereich Energie steht für höchste Qualität und das HZB ist führend im Bereich der Solar-Effizienz.“

Zunächst wird das Projekt bis 2027 laufen, doch auch danach werden die Partner voraussichtlich eng zusammenarbeiten, selbst wenn sich die Gründungsmitglieder in Polen und Berlin ab 2027 zurückziehen. „Wir leisten Starthilfe, dann aber soll die Denkfabrik eigenständig arbeiten – in der Ukraine, für die Ukraine“, sagt Nies. Ihre Zielgruppe sind zum Beispiel Bürgermeisterinnen und Energiemanager, die verstärkt erneuerbare Energieträger nutzen wollen, aber auch die Regierung in Kiew.

Die Engpässe durch die Zerstörungen im Krieg und das dadurch zusätzlich verursachte Leiden der Bevölkerung seien Beleg dafür, wie wichtig es sei, in dem Projekt eine gute Balance zu finden zwischen kurzfristigen Lösungen und langfristiger Planung, betont Nies. Heißt zum Beispiel: Kurzfristig war im zurückliegenden Winter  die Lieferung von 500.000 Dieselgeneratoren an die Ukraine eine wichtige Hilfe, denn nur so konnten die Menschen in einigen Teilen der Ukraine mit Strom versorgt werden. Schon jetzt aber läuft der Austausch dieser Generatoren durch solarbetriebene Modelle mit Speicher, um die Menge an klimaschädlichen Abgasen langfristig zu reduzieren.

Ähnlich flexibel werden auch Reparaturen an der Infrastruktur geplant: Zerstörte Umspannwerke und Leitungen etwa werden selbstverständlich so schnell wie möglich wieder instandgesetzt. „Liegen sie in der Nähe des Kriegsgebiets wird darüber nachgedacht sie teils  unterirdisch zu installieren, damit sie nicht so leicht angreifbar sind“, erklärt Nies.

Über Strategien wie diese wird sie in den kommenden Monaten mit ihren Projektpartnern diskutieren, ein erstes offizielles Treffen findet Anfang Oktober in Kiew statt. International wirbt Nies gemeinsam mit dem wissenschaftlichen Direktor von Green Deal Ukraine, Georg Zachmann, aber schon jetzt um Aufmerksamkeit für diese wichtige Initiative: So war sie zum Beispiel im Juni auf der zentralen Wiederaufbau-Konferenz in London vertreten, Anfang Juli fanden außerdem Gespräche mit der Regierung und den künftigen Projektpartnern in Kiew statt.

Die angespannte Lage dort sei ihr zwar immer bewusst, erzählt Nies. Trotzdem freue sie sich auch auf solche Termine. Denn so könne sie der Ukraine zumindest im Energiesektor helfen – und Wissen liefern.

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