Direkt zum Seiteninhalt springen

Blickwinkel

Muss Wissenschaft den Menschen nutzen?

Jedes Jahr fließen viele Milliarden Euro an Steuergeldern in die Wissenschaft. Aber ist sie deshalb verpflichtet, einen Nutzen für die Allgemeinheit zu haben? Oder sollte die Wissenschaft rein von Neugier getrieben sein? Zwei Blickwinkel. 

Ranga Yogeshwar, Autor und Wissenschaftsjournalist

"Unsere Neugier sollten wir nicht dem Nutzen opfern."

Neue Behandlungen gegen Krebs, die Erforschung erneuerbarer Energien, eine florierende Wirtschaft – ohne wissenschaftliche Erkenntnis wäre all dies und vieles mehr nicht möglich. Diese Auffassung trifft hierzulande auf breite Zustimmung. Und doch greift sie zu kurz. Denn sie operiert ausschließlich mit dem Nutzwert von Wissenschaft. Wer wissenschaftliche Neugier und den tiefen Drang, diese Welt besser zu verstehen, auf ökonomische Kategorien reduziert, der begeht einen gravierenden Fehler. Unsere Neugier sollten wir nicht einem solchen Verständnis von Nutzen opfern. 

Die Übersetzung altägyptischer Hieroglyphen wird wohl kaum das Bruttosozialprodukt steigern. Aber ist diese Wissenschaft nicht dennoch großartig? Sie versucht das Puzzle einer einstigen Hochkultur zu lösen und erweitert unser Verständnis der Vergangenheit. Auch bei der Erforschung der Eigenschaften des Higgs-Bosons oder dem Nachweis von Gravitationswellen gibt es kein ökonomisches "return on investment" – so wie in vielen anderen wissenschaftlichen Bereichen auch. Seit Jahrzehnten beobachte ich eine Wissenschaftslandschaft, die ihre innere Triebfeder, nämlich Neugier und Erkenntnisgewinn, nach außen mit utilitaristischen Argumenten zu legitimieren sucht. Warum? 

Unsere Gesellschaft hat mit der Zeit eine Krämerdenke übernommen – und so übersehen wir die Schönheit der wissenschaftlichen Welt. Mehr noch, wir zerstören ihre Grundlagen: Offenheit und freien Austausch. Ist es nicht an der Zeit, dass die Wissenschaft mit Selbstbewusstsein und Leidenschaft einen Kontrapunkt setzt zu der Eindimensionalität ökonomischer Perspektiven? Und ist es nicht ihre Pflicht, auch für jene Inhalte einzutreten, die sich womöglich nicht lohnen im rein monetären Sinn und trotzdem dem Gemeinwohl und unserer Zivilisation dienen? Wo wird in der Wissenschaft derzeit kritisch über Algorithmen oder über die Auswertung von Big Data diskutiert? Wo sehen wir den wünschenswerten reflektierten Fortschritt, der beides tut: Potenziale zu destillieren, aber auch rote Linien zu ziehen? 

Ich wünsche mir Wissenschaftler, die sich nicht am Markt orientieren, sondern einer verunsicherten Gesellschaft vernünftige und unabhängige Orientierungshilfen anbieten. Diese aufklärerische Stimme ist wichtiger denn je, denn der wahre Mehrwert der Wissenschaft liegt für unsere Gesellschaft nicht in ihrem ökonomisch verwertbaren Output, sondern in ihrer selbstbewussten Unabhängigkeit – und in ihrem freien und mitunter befreienden Denken.


Prof. Otmar D. Wiestler, Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft

"Es geht darum, eine Balance verschiedener Motive zu erhalten."

Erkenntnisgewinn, die pure Lust daran, Neues zu entdecken, die Welt besser zu verstehen – das ist ein entscheidendes Motiv für zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Dies ebenso kritisch wie ergebnisoffen zu tun, ist für viele von uns die entscheidende Antriebskraft dafür, Wissenschaft zu betreiben. Hier geht es um Erkenntnis um ihrer selbst willen, um Aufklärung und die Suche nach Wahrheit.

Daneben – oder in vielen Fällen zusätzlich – gibt es andere Motive, zu forschen: Wir wollen beispielsweise in der Medizin dazu beitragen, bestimmte Krankheiten besser zu verstehen und erfolgreich zu behandeln. Wir untersuchen das Klima unserer Welt, um Beiträge zu ihrem Schutz zu leisten. Oder wir wollen herausfinden, wie künstliche Intelligenz ganz konkret unseren Alltag verändert und Cyber Security unser digitales Leben sicherer macht. Hier ist die Motivation dafür, Forschung zu betreiben, mit einem weiteren, konkreten Ziel verbunden – mit einem Nutzen für die Menschen.

Natürlich darf Wissenschaft nicht darauf reduziert werden, immer einen augenscheinlichen gesellschaftlichen Nutzen zu haben. Doch gleichzeitig müssen wir uns auch fragen: Liefern wir das, was die Gesellschaft von uns erwartet, wofür wir aus Steuermitteln finanziert werden? Forschen wir in ausreichendem Maße auch an dem, was gesellschaftlich relevant ist? Und tun wir genug, um das, was Wissenschaft leistet, und das, was sie nicht leisten kann, ausreichend zu kommunizieren?

Beide Motivationsquellen sind in meinen Augen legitime Anliegen, um wissenschaftlich zu arbeiten. Forscherinnen und Forscher, die mit ihrer Arbeit einen Nutzwert für die Gesellschaft erbringen wollen, suchen die konkrete Anwendung. Die Gesellschaft, wir alle, profitieren davon, indem wir eine bessere Medizin erhalten, Mobilität aus erneuerbaren Energien oder Roboter, die uns unliebsame Aufgaben abnehmen.

Dabei müssen wir allerdings immer im Auge behalten, dass von Neugier getriebene und auf fundamentale Erkenntnisse ausgerichtete Grundlagenforschung ein entscheidender Impulsgeber für mögliche Anwendungen ist. Ohne sie wird es letztlich auch keine echten Innovationen geben. 

Wie also passt das alles zusammen? Bei der Frage nach dem Nutzen von Wissenschaft geht es darum, dass beides möglich ist und möglich bleibt, dass wir eine Balance der verschiedenen Motive bewahren. Ebenso wenig wie wir die Anwendbarkeit von Wissen ignorieren sollten, sollten wir uns ausschließlich von einem Verwertbarkeitsgedanken leiten lassen. Erst ein vielfältiges Nebeneinander kreiert eine lebendige, produktive Wissensgesellschaft.

Was ist Ihre Meinung? Diskutieren Sie mit in den Kommentaren!

Dieser Beitrag ist in den Helmholtz Perspektiven (Ausgabe September 2018) erschienen.

Unter dem Motto "Schön, teuer und nutzlos? Wissenschaft und ihr (Mehr-)Wert für die Gesellschaft." diskutierten wir ebenfalls auf der FOKUS@Helmholtz-Veranstaltung.

Eine längere Version des Kommentars von Ranga Yogeshwar gibt es unter diesem Link.

Leser:innenkommentare