Generationengespräch
„Ihr lasst Euch doch nicht von dem Mädchen in die Tasche stecken!“
Zwei Wissenschaftlerinnen, eine am Anfang, eine am Ende ihrer Karriere, trafen sich zu einem Austausch über alte Vorurteile, kleine Siege und die alles entscheidende Frage: Wie finde ich den richtigen Weg für mich? Brigitte Wittmann, 83, und Eva Rosenbaum, 32, im Gespräch
Frau Wittmann, Sie haben sich 1950 an der Uni Gießen eingeschrieben. War es schwierig, als Frau einen Studienplatz zu bekommen?
Wittmann Und ob. Die Kriegsteilnehmer kehrten zurück und hatten das erste Anrecht. Ich habe drei Mal die Uni gewechselt, um überhaupt in Chemie das Vordiplom und Diplom machen zu können. Zwischendurch musste ich manchmal Biologie studieren, weil es für mich als Frau keinen Laborplatz gab.
Wurde Ihnen das so gesagt: Wir nehmen keine Frauen?
Wittmann Genauso. Es gab keine Quote, aber die Professoren wollten einfach nicht. Für die war klar, dass man als Frau nach dem Diplom aufhört. In Tübingen war es besonders schwierig. Aber ich wollte unbedingt dahin. 1952 hatte ich dann so viele Zeugnisse zusammen, dass sie mich nehmen mussten. Eine einzige Kollegin hatte ich, von ungefähr 60. Und die ging nach dem Diplom. Als ich dann auch noch sagte, ich möchte promovieren, haben sie mir gegeigt, ich könnte sicher nie einen Job bekommen, in der Industrie auf keinen Fall, höchstens in der Bibliothek.
Rosenbaum Bei mir im Semester waren auch nicht viele Frauen, fünf oder acht vielleicht von 120. Aber so etwas wie Sie, Frau Wittmann, habe ich nie gehört. Zu meiner Zeit lief das subtiler. In der Schule zum Beispiel im Matheunterricht. Wenn ich als einzige die Antwort wusste, sagte der Lehrer einmal: „Was ist denn hier los? Ihr wollt euch doch nicht von dem Mädchen in die Tasche stecken lassen!“ Später hatte ich einen Englischlehrer, der reihum fragte, wer was studieren wollte. Als ein Junge antwortete: „Physik“, sagte er: „Das ist ein spannendes Fach“. Als ich „Physik“ sagte, meinte er: „Wirklich? Das ist ja ganz schön schwer!“
WittmannAber im Studium war das anders?
Rosenbaum Als ich 2000 in Heidelberg anfing, waren sie dankbar für jeden Studien - anfänger. Die Arbeitsgruppenleiter haben sich einen Wettstreit geliefert, wer wie viele Studenten für sein Labor gewinnen kann. Insofern glaube ich, dass sich die Professoren sogar gefreut haben, wenn sich mal eine Frau für ihr Fach interessierte. Aber ich war mir nie sicher, ob es nicht nur darum ging, der Erwartung der Politik zu entsprechen, dass endlich mehr Frauen Naturwissenschaften studieren sollen.
Wittmann Für mich kam der Wendepunkt erst, als der spätere Max-Planck-Präsident Adolf Butenandt ein Max-Planck-Institut für Biochemie in München gründen wollte. Als ich davon hörte, saß ich gerade an meiner Diplomprüfung in Tübingen und wusste: Das ist es. Bei Butenandt gab es Biologinnen, Pharmazeutinnen, Medizinerinnen, da fiel man als Frau nicht so auf. Und er nahm mich tatsächlich! Das Thema, das er mir für meine Doktorarbeit stellte, fiel allerdings anders aus, als ich es mir gewünscht hatte. Als Apothekertochter wollte ich über Pflanzeninhaltsstoffe forschen, doch Butenandt sagte: „Wir fangen an mit dem Hämoglobin, mit der Konstitutionsermittlung, und Sie werden die erste sein, die darüber arbeitet.“
Rosenbaum Wir konnten uns das Thema aussuchen. Auf der Website der Universität waren alle Themen aufgelistet, die für eine Masterarbeit in Frage kamen, angeboten von den unterschiedlichen Laboren. Und natürlich gab es mehr Themen als Studenten.
Plötzlich standen Sie in München im Labor, Frau Wittmann, und sollten die Eiweisskomponente des adulten Hämoglobin, eines großen Proteins, erforschen. Wie muss man sich das vorstellen?
Wittmann Es gab keinerlei Rezepte, keinerlei Instruktionen. Nur in Prag forschte eine Gruppe zu meinem Thema. Die machten Papierchromatographie. Aber man konnte ja nicht einfach nach Prag fahren und sie ausfragen. Also habe ich meinem Betreuer die Artikel der Prager gezeigt und gesagt: „So will ich es auch machen.“ Er war erst dagegen, aber ich habe mich durchgesetzt. Wenn alle zwei, drei Monate Herr Butenandt vorbeikam, hatte ich immer schon alles bereit gelegt. Doch er sagte nur, das sei ja alles sehr interessant, aber er könne mir leider keinen Rat geben, weil er auf dem Gebiet nicht gearbeitet habe. Das fand ich unheimlich ehrlich.
Rosenbaum Mein Chef wusste auch nicht über mein Thema Bescheid, aber er kannte immer jemanden, der jemanden kannte, den man fragen könnte. Und im Zeitalter von E-Mails, günstigem Telefonieren und regelmäßigen Konferenzen war es natürlich kein Problem, an die Leute ranzukommen.
Wie haben Sie das denn gemacht, wenn Sie von den Prager Kollegen Rat brauchten, Frau Wittmann?
Wittmann Man konnte nicht mal einen Brief schreiben. Der wäre geöffnet worden, und die Wissenschaftler dort wären in Schwierigkeiten gekommen. Später, als einer der Prager nach Paris ausgereist war, habe ich ihn getroffen. Da konnten wir uns endlich sehen.
Mithilfe der Papierchromatographie haben Sie verschiedene Peptide, also Fragmente von Proteinen, aufgetrennt. Gibt es diese Methode denn noch?
Wittmann Ach was. Aus heutiger Sicht war das primitiv, ein- oder zweidimensionale Papierstreifen mit den vorgetrennten Peptiden für die nächste Trennung auf Papier mit der Nähmaschine zusammenzunähen. Wir hatten da so einen großen Tank im Chromatographie-Raum, den mussten wir einmal die Woche kitten, weil die Dichtung nachgegeben hat. Freitag war Kitt-Tag, damit wir in der folgenden Woche wieder Chromatogramme reinhängen konnten.
Rosenbaum In der Biologie habe ich auch alle meine Proben selber gemacht, pipettiert vor allem. Natürlich waren unsere Apparaturen weniger handgestrickt, weil es heute kommerzielle Anbieter für so etwas gibt. Ein bisschen was habe ich aber auch selbst gebaut, mit viel Kleber und selber schrauben. Das war eigentlich auch das, was mir am meisten Spaß gemacht hat.
Herr Butenandt kam alle zwei, drei Monate mal bei Frau Wittmann vorbei. Wie oft haben Sie Ihren Professor gesehen, Frau Rosenbaum?
Rosenbaum Der war gerade erst habilitiert und hatte noch nicht so viele Studenten zu betreuen. Ich konnte einfach in sein Büro gehen und ihn etwas fragen. Zu meiner Institutsleiterin hatte ich allerdings auch kaum Kontakt. Die wusste, wie ich heiße, das war es dann aber auch.
Wittmann Herr Butenandt hat einmal die Woche ein Seminar veranstaltet, Kinderstunde nannten wir das. Er hat ein Thema vorgegeben für die Woche, und wir mussten uns vorbereiten. Dann fragte er: „Herr Kollege oder Frau Kollegin, können Sie sich mal hinstellen, an die Tafel und das mal eben anmalen?“ Das war schon ein bisschen wie Prüfung.
Rosenbaum So etwas gab es zu meiner Promotionszeit in Grenoble nicht. Dafür aber am Max-Delbrück-Centrum, wo ich jetzt bin. Einmal die Woche stellt jemand den Fortschritt seiner Arbeit vor.
Wittmann Aber das ist heute auf das enge Feld der eigenen Forschung beschränkt. Keiner ist mehr so ein Allrounder, dass er die ganze Biologie beherrscht, die ganze Medizin oder Chemie.
Rosenbaum Wir versuchen schon auch, über den Tellerrand hinauszuschauen. Wir haben ein zweites Seminar, da muss immer jemand eine Veröffentlichung vorstellen, die nicht direkt mit unserem Thema zu tun hat. Ganz fachfremd ist das natürlich auch nicht, es geht da meistens um Molekularbiologie, Biochemie oder Biophysik.
Wie haben Sie Ihre Promotion finanziert, Frau Wittmann?
Wittmann Gott sei Dank hatte ich einen sehr verständnisvollen Vater. Es gab ja keine Stipendien, nur im letzten Jahr des Promotionsstudiums bekam ich 100 Mark im Monat. Dass meine Mutter auch Chemie studiert und 1924 promoviert hatte, hat sicherlich geholfen. Ich war schon 29, als ich mit der Promotion fertig war. Meine Eltern haben mir in all der Zeit geholfen, obwohl wir vier Kinder waren. Ich habe mir aber auch was dazu verdient.
Rosenbaum An der Uni?
Wittmann Wo denken Sie hin, für Frauen ging das nicht! Ich bin zum TOTO gegangen und habe Lottoscheine ausgewertet. Reihe für Reihe, Zahl für Zahl, mit einer Schablone. Am Abend war man wie in der Klapsmühle.
Rosenbaum Für mich war es normal, dass wir alle eine Promotionsstelle hatten. In Frankreich hatte ich ein Stipendium vom Forschungsministerium und eine kleine Lehrtätigkeit an der Uni. Das war auch nicht üppig, aber wenn man vorher ein Studentenbudget hatte, dann kam einem das viel vor.
Frau Rosenbaum, Sie sind schon im Masterstudium nach Frankreich gegangen. Ist heute Internationalität wichtiger als früher?
Rosenbaum Wenn man in der Wissenschaft Karriere machen will, muss man früh gehen. Dieses Dogma finde ich eigentlich zu extrem. Natürlich ist es wichtig, dass die Leute mal das Labor wechseln, aber das könnten sie theoretisch auch innerhalb Deutschlands. Die Realität aber sieht so aus: Wenn man sich irgendwo bewirbt und nicht mindestens zwei, drei Jahre im Ausland war, dann ist man raus.
Frau Wittmann, bevor Sie ans Max- Delbrück-Centrum wechselten, waren Sie 30 Jahre lang in der Max-Planck- Gesellschaft.
Wittmann Ja, aber da war Glück dabei. Bei der Assistentenstelle, die ich in München während der Promotion hatte, wurde mir gleich gesagt, als Frau hätte ich keine Chancen, länger als zwei Jahre zu bleiben. Eigentlich wollte ich dann nach Amerika gehen, aber schließlich kam die Heirat dazwischen und ich bin an das Institut meines Mannes gegangen.
War es üblich, dass man am Institut des Mannes unterkam?
Wittmann Natürlich nicht. Wir lernten uns kennen, weil wir auf demselben Gebiet arbeiteten. Mein Mann wurde zu uns nach München geschickt, um unsere Methoden zu lernen. Ich war diejenige, die ihm zeigte, wie man mit Proteinen umgeht. Und dann hat es sich so ergeben, dass wir immer weiter miteinander gearbeitet haben.
Gab es nach Ihrer Hochzeit von irgendwoher Druck, jetzt sollten Sie doch bitte zu Hause bleiben?
Wittmann Nein. Ich durfte sogar bezahlt arbeiten, was wichtig war, weil ich Kinder bekam und mein Geld für die Kinderbetreuerin brauchte. Als später einer unserer Gruppenleiter auf eine Professur nach Belgien berufen wurde und mich vier seiner Doktoranden fragten, ob ich sie nicht übernehmen wolle, habe ich gesagt: „Ich habe einen Säugling zu Hause, wie soll ich das schaffen?“ Am Ende habe ich es doch gemacht und alle durchgekriegt. Aber das war eigentlich nicht gewollt: Ich hatte immer nur eine einfache Mitarbeiterstelle, wie ein Postdoc. Offiziell war ich Gruppenleiterin, aber nicht der Bezahlung nach.
Rosenbaum Eine Gruppenleiterstelle ist auch mein nächstes Ziel. Eine Postdoc- Stelle zu finden ist heute eigentlich kein Problem, da gibt es unglaublich viele. Das sind aber alles befristete Stellen. Und über uns allen hängt das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, das besagt, dass nach zwölf Jahren befristeter Tätigkeit Schluss ist. Wer es bis dahin nicht auf eine feste Stelle geschafft hat, ist draußen.
Was heißt für Sie „eine feste Stelle“?
Rosenbaum Eine Professur. Sonst gibt es fast nichts Unbefristetes. Einer Statistik zufolge schaffen es drei Prozent von allen Promovierenden auf eine Professur, von den Postdocs zehn Prozent. Das heißt, wir Postdocs haben ein 90-Prozent- Risiko, dass es nicht klappt.
Wittmann In anderen Ländern gehört man zum Institut oder zur Universität und ist dort fest angestellt – und kann immer wieder auf neue Aufgabengebiete oder in neue Projekte wechseln.
Wäre denn eine Gruppenleitung etwas, womit Sie auf Dauer zufrieden wären, Frau Rosenbaum? Oder wird man so gepolt, dass es immer weiter nach oben gehen muss?
Rosenbaum Genau das frage ich mich zurzeit: was mir wirklich wichtig ist. Ich stehe unheimlich gern im Labor. Mein Chef dagegen beschäftigt sich fast nur noch damit, Gelder einzuwerben und die Publikationen anderer Leute zu beurteilen. Dass er mal eine Pipette in die Hand genommen hat, habe ich noch nicht gesehen.
Viele Wissenschaftler klagen über den Publikationsdruck. Gab es diese Klagen zu Ihrer Zeit auch schon, Frau Wittmann?
Wittmann Damals ging es gerade mit den englischsprachigen Journals los. Unsere Chefs wollten immer noch auf Deutsch publizieren. Sie wollten, dass wieder alles so würde wie früher. Für uns Junge war es da einfacher. Was wir damals zum Glück noch nicht hatten, war diese Skalierung: dass es für ein bestimmtes Journal so und so viele Punkte gibt und für ein anderes weniger.
Rosenbaum Genau das finde ich so frustrierend, dass es gar nicht mehr darum geht, ob die Forschungsarbeit gut ist oder nicht, sondern darum, wo sie publiziert wird. Das gilt dann als einziger Qualitätsmaßstab. Und wenn jemand etwas publizieren möchte, was gegen die Lehrmeinung geht, kommt er in die angesagten Journals nicht rein. Dabei kann man oft eigentlich erst mit zehn Jahren Abstand feststellen, was wirklich revolutionär war.
Lassen Sie uns noch einmal zurückkommen auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hat sich da Ihrer Meinung nach etwas getan, Frau Rosenbaum?
Rosenbaum Es ist doch allein schon unwahrscheinlich, in derselben Stadt zu bleiben. Ich habe viele Paare in meinem Bekanntenkreis, die dieses Problem haben und eben eine Fernbeziehung führen müssen. Damit bin ich noch einmal beim Wissenschaftszeitvertragsgesetz: Für uns Frauen ist das eine Riesenhürde. Man bekommt zwar ein Extrajahr pro Kind, aber natürlich fällt die Familiengründung genau in den Zeitraum, in dem wir besonders produktiv sein müssen, wenn wir es im System schaffen wollen.
Wittmann Ich glaube, der Unterschied ist, dass man heute als Frau ganz gute Chancen hat – solange man den eigenen Kinderwunsch zurückstellt. Man hat zu viele Verpflichtungen, man muss zu Kongressen reisen, man muss Nächte im Labor arbeiten, an Samstagen und Sonntagen. Das ist mit Kindern schwer zu vereinbaren.
Rosenbaum Die Männer bekommen es ja auch hin. Wenn man dieses eingefahrene Rollenbild umdreht – dann geht es vielleicht.
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