Otto Lilienthal
Gleiter aus dem Webstuhl
Vor 120 Jahren verunglückte der Flugpioniers Otto Lilienthal mit seinem "Normalsegelapparat" tödlich. Forscher vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) haben den nur 23 Kilogramm schweren Gleiter gemeinsam mit Kollegen vom Lilienthal-Museum bis ins kleinste Detail nachgebaut und konnten so die Ursache des Absturzes ermitteln.
Die Herstellung des fragilen Flugapparates war eine Fleißarbeit. Die Erbauer Bernd Lukasch und Ingolf Legat vom Lilienthal-Museum in Anklam, dem Geburtsort des Wissenschaftlers, mussten dabei immer wieder improvisieren. So standen während des Baubeginns im Winter keine biegsamen Weidenzweige zur Verfügung, wie Lilienthal sie für das Original verwendet hatte. Also griffen sie stattdessen auf tropisches Abachiholz zurück. Für die textile Flügelbespannung ließen sie die Probe eines noch erhaltenen Lilienthal-Seglers untersuchen. Rund 20 Quadratmeter misst der dichte, aber leichte Stoff, den Lilienthal damals verwendet hatte. Shirting heißt die alte Gewebeart, die üblicherweise als Hemdenstoff dient. Eine Spezialweberei aus Nordhessen produzierte ihn für die Flugzeug-Replik nach.
Die Forscher schafften den Gleiter mit einer Spannweite von 6,70 Metern zur Analyse in einen der größten Windkanäle Europas im nieder-ländischen Marknesse, der für Modelle von bis zu fast zehn Metern ausgelegt ist. Die an den Achsen anliegenden Kräfte, den Auftrieb und auch Drehmomente konnten sie dort mit einem Messarm und Computer errechnen, um die Stabilität des Fliegers verlässlich zu beziffern.
Ihr Ergebnis: Lilienthals Gleiter war in allen drei Achsen eigenstabil – so heißt es im Piloten-jargon, wenn sich der Gleiter immer wieder selbst in eine stabile Flugposition bringt, sobald er abgelenkt wird. Diese Eigenschaft besitzen alle modernen Flugzeuge. Lilienthals Gleiter, so die DLR-Forscher, entsprach in seinen Flug-Eigenschaften den Schul-Segelflugzeugen aus den 1920er und 1930er Jahren – die es erst mehr als ein Vierteljahrhundert später gab.
Damit hat der Nachbau die erstaunlich guten Konstruktionsfähigkeiten des ambitionierten Fliegers Lilienthal gezeigt, die Bernd Lukasch ihm zusätzlich zu seiner Erfahrung in etwa 2000 Flügen zuspricht. Doch der Gleiter ist ebenso ein exakter Prüfmaßstab für die Aussagen des Erfinders. So ermittelten die Aerodynamiker des DLR unter anderem, dass Lilienthal mit bis zu 50 Kilometern pro Stunde unterwegs war und Entfernungen von 250 Metern im Segler zurücklegte.
Neun Exemplare seines Fliegers hat der geschäftstüchtige Lilienthal samt Flugstunden bereits am Ende des 19. Jahrhunderts verkauft. Vier sind in Museen bis heute erhalten, aber im Gegensatz zu ihnen ist die jetzt gebaute Replik flugfähig — theoretisch zumindest. „Ich kann es mir zwar vorstellen, das Gerät im Freien zu testen, weil es ein schönes Gefühl war bei einem Fototermin draußen, die aerodynamischen Kräfte zu spüren“, sagt Christian Schnepf. Doch was er täte, wenn er tatsächlich am Berg stünde, bereit zum Losrennen und Abspringen? „Ich weiß es nicht – vor allem nicht mit dem Wissen, dass Otto Lilienthal tödlich verunglückt ist.“
Wie die Forscher nun belegten, lässt sich sein Gleiter nur verlässlich lenken, wenn die Nase höchstens 16 Grad nach oben zeigt
Ob sich sein dramatischer Unfall hätte verhindern lassen? Auch das wollten die Forscher in ihren Untersuchungen herausfinden. Sie haben deshalb das Geschehen an jenem Unglückstag detailliert rekonstruiert. Die wahrscheinlichste Version: Lilienthal geriet mit seinem Segler in eine sogenannte Sonnebö; eine Blase aus warmer Luft am Boden, die vom Wind mitgetrieben wird und aufsteigt. Sie riss den Flieger nach oben. Ein Strömungsabriss war die Folge, der machte ihn unsteuerbar – Lilienthal stürzte zu Boden. Wie die Forscher nun belegten, lässt sich sein Gleiter nur verlässlich lenken, wenn die Nase höchstens 16 Grad nach oben zeigt. Die begrenzten Möglichkeiten, nur mit seinem eigenen Körpergewicht gegenzusteuern, wurden dem Flugpionier daher zum Verhängnis. „Pilotenfehler“, urteilten die Forscher daher. Der lag darin, dass er bei dem Wetter am 9. August 1896 nicht hätte starten dürfen, so Andreas Dillmann vom DLR.
Sein Gleiter war nur für Windstille und Gegenwind geeignet. Die Verhältnisse am Absturztag hat Lilienthal falsch eingeschätzt. „Grundsätzlich hat Lilienthal richtig reagiert“, sagt Dillmann. „Wir wissen, dass er Beine und Oberkörper nach vorne geworfen hat. Aber das hat nicht ausgereicht.“ Von einem „sehr klassischen Flugunfall“ spricht auch Bernd Lukasch. Dieser sei Seglern auch noch lange nach Lilienthal widerfahren.
Bei seinem Absturz aus 15 Metern Höhe hat Lilienthal sich Untersuchungen deutscher Flugmediziner aus dem Jahr 2008 zufolge vermutlich eine Hirnverletzung zugezogen, durch die er ins Koma fiel und am Folgetag im Universitätsklinikum Berlin verstarb. Eine Wirbelsäulen-Verletzung als alleinige Todesursache, die der Obduktionsbericht und die Berliner Zeitungen damals nannten, ist weniger wahrscheinlich, urteilen sie.
Als Erinnerung an Lilienthals Leistungen hofft Lukasch nach dem Ende der Untersuchungen auf einen prominenten Aufbewahrungsort für den Gleiter. Er wünscht sich eine ähnliche Würdigung, wie für die Gebrüder Wright im angelsächsischen Raum, die ihre motorisierten Flugversuche auf Lilienthals Arbeit stützten. „Wir haben da etwas aufzuholen“, sagt Bernd Lukasch vom Lilienthal-Museum. Nur die Wenigsten wüssten, dass dort, wo heute beliebte Berliner Clubs am Ostbahnhof und der Jannowitzbrücke residieren, das erste Mal in der Geschichte ein Flugzeug in Serie gebaut worden sei. „Berlin ist die Stadt, aus der das Flugzeug kommt.“
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