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Interview

„Europa muss im Weltraum aufholen"

Ein digitaler Zwilling der Erde soll das Erdsystem umfassend und hochauflösend simulieren und beispielsweise als Grundlage für Massnahmen gegen den Klimawandel dienen. (Bild: ESA)

Über die wichtigsten Ziele und Meilensteine für die europäische Raumfahrt, sprachen wir mit ESA-Chef Josef Aschbacher.

Josef Aschbacher ist seit dem 1. März 2021 der Generaldirektor der Europäischen Weltraumorganisation (ESA). (Bild:ESA / P. Sebirot)

Herr Aschbacher, welche Rolle spielt die astronautische Raumfahrt für Deutschland und Europa heute und in Zukunft?

Um es kurz zu sagen: Eine ganz wichtige. Astronauten und Astronautinnen sind Botschafter der Raumfahrt. Sie sehen die Erde mit anderen Augen. Und diese Perspektive ist wichtig für die Menschen und für die Politik. Sie ermahnen uns: Leute, von hier oben gesehen ist die Erde eine ganz fragile Kugel, die im Nichts schwebt! Passt auf, dass ihr sie nicht zerstört! Vermeidet Konflikte und Probleme auf der Erdoberfläche, denn es gibt viel Größeres und viel Wichtigeres, als euch die Köpfe einzuschlagen.

Einige Kritiker der astronautischen Raumfahrt verweisen auf die hohen Kosten und stellen ihren wissenschaftlichen Nutzen in Frage…

Das möchte ich stark bestreiten! Erstens ist der Nutzen groß und zweitens gibt es hunderte von Beispielen, wo die Raumfahrt-Technologie ins tägliche Leben auf der Erde vorgedrungen ist und dort Verbesserungen ermöglicht hat - wie Wettervorhersage, Navigation, SatComm, Solarzellen, intelligente Materialien, neue Krebs-Medikamente, etc.

Ich halte die Kosten für nicht zu hoch. Das Programm für die astronautische Raumfahrt macht gerade einmal 10% des ESA-Budgets aus. Ein moderater Anteil. Das entspricht etwa drei Euro pro Bürger und Jahr. Das ist nicht viel. Die Ausgaben für Raumfahrt in Europa betragen übrigens nur etwa acht Prozent dessen, was in Amerika ausgegeben wird. Ein Bruchteil!

Ende Oktober wird der deutsche ESA-Astronaut Matthias Maurer für sechs Monate zur Internationalen Raumstation ISS starten. Was sind die wissenschaftlichen Themen seiner „Cosmic Kiss“-Mission?

Die Liste der Experimente, die Matthias an Bord der ISS durchführen wird, ist enorm lang: 160 Experimente insgesamt. Sechsunddreißig davon stammen aus Deutschland. Da geht es um Grundlagenforschung und anwendungsorientierte Wissenschaft und Technologietests aus den Bereichen Lebens- und Materialwissenschaften, Physik, Biologie, Medizin, Erdbeobachtung oder Künstliche Intelligenz.

Da gibt zum Beispiel diesen kleinen Cimon. Ein fliegender und autonom agierender Astronauten-Assistent. Er ist mit einer Künstlichen Intelligenz ausgestattet und soll mit Matthias kommunizieren und ihn bei komplexen wissenschaftlichen Arbeiten anleiten und unterstützen.

Die zwei Missionen von Alexander Gerst, dem Vorgänger von Matthias Maurer auf der ISS, waren auch ein großer PR-Erfolg für die ESA. Wird auch Maurer als „Social-Media-Astronaut“ auf die Erde zurückkehren?

Absolut. Alexander Gerst hat enorm eingeschlagen in Deutschland. Übrigens ebenso wie sein Kollege Thomas Pesquet in Frankreich. Es ist unglaublich, wie viele Menschen Astronautinnen und Astronauten über ihre Social-Media-Kanäle direkt erreichen. Ich bin mir sicher, Matthias wird das genauso gut machen. Natürlich unterstützen wir ihn dabei auf der Erde, damit er nicht den ganzen Tag auf der Raumstation nur twittern muss. (Lacht)

Livestream zum Start von Matthias Maurer

Am 31. Oktober um 07:21 Uhr unserer Zeit soll der deutsche ESA-Astronaut Matthias Maurer zur Internationalen Raumstation ISS starten. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt überträgt den Start live!

Livestream zum Start von Matthias Maurer

Ich will die ESA dynamischer und schneller machen.

Sie sind seit knapp sechs Monaten Generaldirektor der ESA. Bereits kurz nach Ihrem Amtsantritt haben Sie die Agenda 2025 vorgestellt. Was sind die wichtigsten Meilensteine, die Sie in den nächsten vier Jahren erreichen wollen?

Europa muss im Weltraum aufholen, um nicht aus dem Rennen geworfen zu werden. Um für die nächste Dekade fit zu sein, müssen wir unsere Beziehung zur Europäischen Kommission klären und verbessern. Wie Sie vielleicht wissen, ist die ESA eine Organisation mit 22 Mitgliedstaaten, die unabhängig von der EU ist. Dennoch gibt es einige enge Kooperationen. Die Kommission engagiert sich enorm stark im Weltraum. Das finde ich großartig. Das ist wichtig für Europa, aber die Beziehung zwischen Kommission und ESA war verbesserungsbedürftig. Man kann es auch umgekehrt ausdrücken: sie war schlecht. Es hat einige Spannungen gegeben. Die Verhandlungen um das so wichtige Financial Framework Partnership Agreement (FFPA) verliefen stockend, wir kamen auf beiden Seiten nicht mehr weiter. In einer gemeinsamen Kraftanstrengung haben wir das geändert. Das Ergebnis ist ein Neustart der Beziehungen. Wir haben dafür den Ausdruck geprägt: "a fresh start in the ESA - EU relationship". Der erste Erfolg dieser Beziehung war im Juni die Unterschrift unter der Vereinbarung. Jetzt müssen wir an der zügigen Umsetzung arbeiten und die offenen Themen angehen, wie zum Beispiel die Weiterentwicklung des Erdbeobachtungsprogramms Copernicus und des Satellitennavigationssystems Galileo.

Welche Ziele haben Sie darüber hinaus?

Ich will die ESA dynamischer und schneller machen. Wir haben Prozesse, beispielsweise bei der Vergabe von Aufträgen an die Industrie, die benötigen viele Monate. Diese Zeit müssen wir verkürzen. NewSpace-Unternehmen warten nicht so lange. Die benötigen innerhalb von kurzer Zeit eine Antwort, sonst laufen sie davon. Das heißt, wir müssen uns da ändern. Neue Regeln, neue Prozesse entwickeln, um auf diese neuen Akteure eingehen zu können. Und nicht zu vergessen: Wir wollen eine Agentur sein und bleiben, die attraktiv ist für junge Talente aus ganz Europa. Das heißt, wir müssen weiter an unseren thematischen Inhalten arbeiten: Klima, Digitalisierung, Gender, Diversity, LGBTQIA+ – das sind wichtige, übergreifende Themen, um die nächste Generation anzuziehen.

Stichwort NewSpace: Wie stehen Sie zur Kommerzialisierung der Raumfahrt?

Den Trend verfolge ich bereits seit 2016. Damals bin ich, als Direktor für die Erdbeobachtungsprogramme der ESA, mit meinem Top-Management in die USA gereist, um mir anzusehen, wie diese neuen NewSpace-Unternehmen arbeiten. Wir waren wirklich beeindruckt. Anschließend haben wir Vertreter dieser Unternehmen nach Europa eingeladen, damit sie unseren Leuten einen Spiegel vorhalten, einfach um zu zeigen: Leute, wacht auf, da passiert etwas. Das geht sehr schnell und ihr müsst da mitmachen, sonst verliert ihr an Relevanz. In der Folge habe ich mein Direktorat umorganisiert und mit Future Systems, dem Phi-Lab und der Phi-Experience Abteilungen geschaffen, um disruptive Innovation zu ermöglichen. Nun wird das Ganze auf die nächste Stufe gehoben. Um relevant zu bleiben, müssen wir uns verändern. Diese Transformation für mich ist absolut notwendig für die gesamte ESA, aber auch für die Raumfahrt in Europa. Diese Transformation voranzutreiben ist das eigentliche Herzstück der Agenda 2025.

Deutschland hat für die Raumfahrt viel zu bieten.

Im Grunde vollziehen Sie einen Paradigmenwechsel…

Ich versuche, die ESA zu modernisieren. Aber ich mache das aus einer Notwendigkeit heraus. Wenn ich es nicht machen würde, habe ich die große Befürchtung, dass wir irrelevant würden. Und das wäre natürlich schlimm.

Sie waren viel unterwegs in jüngster Zeit. Sie haben auch deutsche Raumfahrt und NewSpace-Unternehmen besucht. Was hat Sie beeindruckt?

Deutschland hat für die Raumfahrt viel zu bieten, gerade auch die kleinen und mittleren Unternehmen. Im Erdbeobachtungsprogramm Copernicus vergibt die ESA normalerweise sechs Prozent der Aufträge an kleine und mittlere Unternehmen (KMU). In Deutschland ist der Anteil doppelt so hoch. Die KMU-Szene ist hier sehr dynamisch: Von Zulieferern für Satellitenhersteller über IT-Dienstleister bis zu Anbietern von Value Added Services in der Erdbeobachtung.

Was tut sich in Deutschland bei den Start-ups?

Im NewSpace-Bereich gibt es in Deutschland unter anderem Start-ups, die sich mit dem Bau von Raketen beschäftigen. Zum Beispiel Isar Aerospace und die Rocket Factory Augsburg. Ich finde faszinierend, was die Leute dort innerhalb von nur drei Jahren aufgebaut haben. Sie agieren in einem sehr wettbewerbsintensiven Markt. Weltweit gibt es über 100 Start-ups, die sich mit der Entwicklung von Raketen beschäftigen. Ich glaube, dass beide Unternehmen im Wettbewerb bestehen werden. Mit beiden haben wir bereits Verträge.

Sie haben das erfolgreiche europäische Erdbeobachtungsprogramm Copernicus damals mitinitiiert. Wie geht es weiter in diesem Programm?

Copernicus ist heute schon der weltweit größte Datenlieferant aus dem Weltraum. Die Sentinel-Satelliten sammeln täglich etwa 250 Terabyte an Daten, die wir kostenlos zur Verfügung stellen. Das Interesse der ESA-Mitgliedsländer an diesem Programm ist sehr groß. Die Entwicklung der zweiten Generation, Copernicus 2.0 wurde bereits beschlossen. Dafür stehen uns 1,8 Mrd. EUR zur Verfügung. Knapp 400 Mio. EUR mehr, als wir erwartet haben. Damit steht uns nun das Geld zur Verfügung, um sechs neue Satelliten-Linien aufzubauen. Dabei kommen komplett neue Technologien zum Einsatz.

Können Sie Beispiele nennen?

Mit der CO2M-Mission werden wir das erste Mal in der Lage sein, die CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre so genau messen zu können, dass wir unterscheiden können, ob es sich um anthropogene oder natürliche CO2-Quellen oder Senken handelt. Ein zweites Beispiel ist die CIMR-Mission, bei der es möglich wird, mit einem Mikrowellenradiometer die Temperatur der Meeresoberfläche, die Meereiskonzentration und den Salzgehalt der Meeresoberfläche zu messen. Der Satellit verfügt dazu über eine riesige Antenne mit acht Metern Durchmesser. Sie wird sich nach dem Start wie ein Regenschirm öffnen. Das muss technisch sehr gut gemacht werden. Die Antenne wird von einem deutschen Unternehmen, HBS, entwickelt. Dabei kommt völlig neue Technologie zum Einsatz – das ist wirklich phänomenal.

Mit den Daten lässt sich sicher viel erreichen?

Richtig. Den nächsten großen Schritt, den wir machen wollen, ist einen digitalen Zwilling der Erde zu entwickeln. Darin sollen die Copernicus Daten einfließen, aber auch viele andere, z.B. sozioökonomische Daten. Damit wollen wir das System Erde simulieren und verstehen. Diese Simulationen können zukünftig Bürger und Politiker dabei unterstützen, im Hinblick auf den deutlich erkennbaren Klimawandel Entscheidungen zu treffen.

Herr Aschbacher, vielen Dank für das Gespräch!

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