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„Hitlers Atombombe“

Eine Korrektur der Geschichtsschreibung

Nachbau des deutschen Versuchsreaktors im "Atomkeller" im schwäbischen Haigerloch aus. Uranwürfel sollten eine Kernreaktion in Gang bringen. Bild: picture-alliance/akg-images

Warum gelang es den deutschen Physikern im 2. Weltkrieg nicht, eine Atombombe zu entwickeln? Bislang gingen die Wissenschaftshistoriker davon aus, dass ein solches Großprojekt die wirtschaftliche Kraft des Deutschen Reiches überfordert hätte. Laut einer erneuten Analyse der historischen Quellen gab es ganz andere Gründe.

Sofort nach Beginn des Zweiten Weltkrieges verpflichtete das Heereswaffenamt in Deutschland einige Dutzend Wissenschaftler, darunter Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker, mit der Aufgabe, das wirtschaftliche und militärische Potenzial der Kernspaltung zu untersuchen. In verschiedenen Experimenten versuchten sie, eine Kettenreaktion in einem Reaktor zu demonstrieren,  zuletzt in einem Felsenkeller im württembergischen Haigerloch. Das Vorhaben misslang jedoch.

Lange diskutiert wurde die Frage, warum die deutschen Physiker es nicht schafften, eine Atombombe zu entwickeln. Vor rund 25 Jahren kam der amerikanische Historiker Mark Walker zu dem Schluss, dass sie zwar wussten, wie eine Atombombe funktionieren müsse, ihr Bau aber die wirtschaftliche Kraft Deutschlands überfordert hätte. Dieses Urteil wird bis heute allgemein anerkannt.

Der ehemalige Vorstandsvorsitzende des Forschungszentrums Karlsruhe, Manfred Popp, kommt nach erneuter Analyse aller verfügbaren historischen Dokumente zu einem anderen Schluss: Demnach haben Walker und andere Historiker die Quellen oft unvollständig analysiert und physikalische Fakten ignoriert. Popp kommt zu dem Ergebnis, dass die deutschen Physiker nicht wussten, wie eine Bombe gebaut werden kann, weil sie nie an einer realistischen Theorie der Atombombe gearbeitet hatten. Wir haben mit ihm gesprochen.

Wie kam es dazu, dass Sie sich die alten Dokumente, die als vollständig ausrecherchiert galten, erneut vorgenommen haben?  

Der Anlass war mein Vorhaben, die Geschichte des Forschungszentrums Karlsruhe zu beschreiben, dessen Vorläufer während des Zweiten Weltkrieges der "Uranverein" gewesen war. Eines seiner Mitglieder, Karl Wirtz, war maßgeblich an der Gründung des ehemaligen Kernforschungszentrums beteiligt und wurde dort 1957 Leiter des Instituts für Neutronenphysik und Reaktortechnik. Ich wusste, dass die Geschichte des Uranvereins intensiv erforscht war und dachte nicht im Traum daran, etwas Neues zu finden.

Und dabei stießen Sie auf Ungereimtheiten, unter anderem bei den Arbeiten von Mark Walker?

Walker hat sich ohne Frage in der Aufarbeitung der Rolle der deutschen Physiker während der NS-Zeit großes Ansehen erworben. Merkwürdigerweise bleibt er im Umgang mit den Dokumenten über den möglichen Bau einer Atombombe sehr oberflächlich und zieht wichtige physikalische Fakten nicht in Betracht. Wenn man das tut und die Dokumente sorgfältig analysiert, kommt man zu dem Ergebnis, dass die deutschen Physiker offenbar gar nicht über die Funktionsweise der Bombe nachgedacht haben. 

Bestand denn damals nicht die Absicht sowohl einen Reaktor als auch eine Bombe zu bauen? 

Beides war anfangs beabsichtig und politisch gewünscht. Schon Anfang 1939 war bekannt, dass Uran-235 ein möglicher atomarer Sprengstoff wäre. Im Sommer 1940 entdeckte unter anderen Carl Friedrich von Weizsäcker, dass ein spaltbares transuranisches „Element 94“ in einem Atomreaktor erzeugt werden könne. Dieses Transuran bezeichnet man heute als Plutonium-239.

Das sind die beiden Stoffe, aus denen später die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki gebaut wurden. Aber die sind nicht so leicht zu bekommen.

Uran-235 ist nur zu 0,7 Prozent in Natururan enthalten, und die deutschen Physiker sahen damals – im Gegensatz zu den amerikanischen – keine Möglichkeit, es in ausreichenden Mengen zu extrahieren. Für die Produktion von Plutonium würde man einen Reaktor in Kraftwerksgröße benötigen, aber den deutschen Physikern gelang bis 1945 nicht einmal ein Experiment zur Demonstration der Kettenreaktion. Wenn Heisenberg über die Bombe sprach, versäumte er nie darauf hinzuweisen, dass sie während des Krieges unerreichbar sei.

Insofern wäre es doch logisch, dass die Physiker nie über den Bau der Bombe nachgedacht haben. 

Ja, eigentlich wäre es aus ihrer Sicht Zeitverschwendung gewesen, sich mit der Bombe zu beschäftigen. Andererseits ist es merkwürdig, dass sie häufig über die millionenfach stärkere Explosivkraft gesprochen, aber nie versucht haben, sich vorzustellen, was in einer solchen Höllenmaschine bei Temperaturen von vielen Millionen Grad geschieht. Extreme Zustände von Materie und Energie wecken immer das Interesse von Physikern. Die Neugier, sonst ihre stärkste Antriebskraft, haben sie in diesem Fall aber nicht zum Zuge kommen lassen.

Was war denn falsch an der Vorstellung der Funktionsweise der Bombe im Uranverein?

Um das zu erklären, müssen wir uns die unterschiedlichen Funktionsweisen von Reaktoren und Bomben anschauen. Enrico Fermi hatte herausgefunden, dass Neutronen merkwürdigerweise umso leichter Kernreaktionen auslösen, je langsamer sie sind. Mit solchen „thermischen“ Neutronen, die nur die Geschwindigkeit ihrer Umgebungsatome haben, können Kernspaltungen etwa 500-mal häufiger auftreten als mit den schnellen Neutronen, die bei der Kernspaltung entstehen. In einem Kernreaktor werden die Neutronen deshalb von einem Moderator abgebremst, um eine effektive Kettenreaktion zu ermöglichen.

Auch für die Bombe dachten die deutschen Physiker deshalb an thermische Neutronen. Dabei haben sie nur die kernphysikalischen Vorteile berücksichtigt, aber die Thermodynamik missachtet. Eine konventionelle Bombe explodiert etwa bei 3000 Grad. Auch eine Atombombe wird oberhalb dieser Temperatur gasförmig und expandiert rasch, wodurch die Kettenreaktion und damit die Energiefreisetzung sofort abreißt. Die gasförmige Bombe muss aber auf Millionen von Grad aufgeheizt werden, bevor sie dann mit enormer Wucht explodiert. Das geht nur, wenn die Energiefreisetzung so schnell erfolgt, dass sie der Expansion der Bombe zuvorkommt. Mit thermischen Neutronen kann das nicht gelingen, da sie ja nicht schneller als ihre Umgebungsatome sind. Deshalb muss man die weniger effektiven schnellen Neutronen direkt benutzen – ein Moderator wäre Gift für eine Bombe. Genau das haben die deutschen Physiker aber nicht realisiert. Die amerikanischen Physiker wussten das schon Anfang 1940.

Es ist schon erstaunlich, dass die deutschen Physiker darauf nicht gekommen sind.  

In der Tat hat Heisenberg 1942 in einem Vortrag eine interessante Grafik gezeigt, die beweist, dass er das Prinzip der schnellen Neutronen für den Bau der Bombe dann doch erkannt hatte. Er hat es aber, so erstaunlich das klingt, nie ausgesprochen, und so hat noch im November 1944 Walter Gerlach erklärt, dass man für eine Bombe Tonnen von Uran und Moderator benötige. Immerhin war er damals der Leiter des Programms. Nach dem Krieg übrigens hat Heisenberg behauptet, er hätte es immer schon gewusst, dass eine Bombe nur mit schnellen Neuronen funktioniert.

Fehlte den deutschen Physikern eventuell das physikalische Grundwissen?  

Oh nein. Jedem guten Physiker würde das Problem nach einigen Tagen intensiver Beschäftigung mit dem Thema auffallen. Die Tatsache, dass Physiker vom Schlage Heisenbergs, von Weizsäckers oder Gerlachs darauf nicht kamen, zeugt für mich eindeutig davon, dass sie darüber gar nicht nachgedacht haben.

In den Abhörprotokollen, die während der Internierung der leitenden Wissenschaftler des Uranvereins in Farm Hall (England) angefertigt wurden, kann man nach der Nachricht vom Atombombenabwurf über Hiroshima feststellen, wie wenig die deutschen Physiker über die Bombe wussten. Erst danach verstand Heisenberg von Tag zu Tag besser, wie sie funktioniert haben muss. Das beweist, dass er zwar das richtige Prinzip erkannt, aber nie ernsthaft über die Physik der Bombe nachgedacht hatte.

Vielleicht wollten sie die Bombe für Hitler nicht bauen?  

Das Ergebnis des Uranvereins ließe sich vielleicht so interpretieren. Die Historiker haben lange darüber gestritten, eine moralische Weigerung aber nicht akzeptiert, nicht zuletzt, weil die Mitglieder des Uranvereins das nie für sich in Anspruch genommen haben. Was man mit Sicherheit sagen kann ist: Sie wollten kein Großforschungsprojekt. Das ist merkwürdig, denn ihrer Arbeit an der Kerntechnik ist nach dem Krieg der Aufbau der großen Kernforschungszentren gefolgt, und Heisenbergs eigentliche physikalischen Arbeiten während des Krieges an einer Theorie der Elementarteilchen – für Maschinen, einschließlich Reaktor oder Bombe, konnte er kein Interesse aufbringen – trugen zum Aufbau der großen Beschleunigerzentren bei.

Warum lehnten sie denn die Großforschung ab, ohne die ein so komplexes Gebiet wie die Erschließung einer völlig neuen Energiequelle nicht gelingen konnte?

So unterschiedlich die Mitglieder des Uranvereins waren, auch in ihrer politischen Einstellung, in einem waren sie sich einig: Sie hatten Angst vor einem großen Programm. Zum einen befürchteten sie, die nächsten Jahre unter Aufsicht des Militärs hinter Stacheldraht forschen zu müssen. Zum anderen konnten sie nach Inanspruchnahme umfänglicher Ressourcen im Falle eines Misserfolgs im KZ enden. Es war aber allen klar: Ohne Großprogramm wäre der Bau einer Bombe unmöglich gewesen.

Und warum wurde kein Großforschungsprojekt angeordnet?

1939 hatte man kein Interesse an einer Bombe, die erst nach dem baldigen deutschen Sieg verfügbar würde. 1942 war es dann auch für eine große Anstrengung zu spät  Doch am Ende hatten die Mitglieder des Uranvereins  Glück im Unglück ihrer Erfolglosigkeit: Wäre ihnen eine Demonstration der Kettenreaktion schon 1940 gelungen, ein Großprojekt wäre unvermeidbar gewesen.

Zu dem schrecklichen Gedanken, Hitler hätte über Atombomben verfügen können, bildet die tatsächliche Idylle des Uranvereins, der bescheiden und geduldig im akademischen Stil an der Reaktorentwicklung arbeitete während Deutschland in Schutt und Asche versank, einen merkwürdigen Gegensatz. Aber wir können das Ergebnis mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen.

Prof. Dr. Manfred Popp, 1941 in München geboren, studierte Kernphysik an der Universität Bonn. Er war anschließend unter anderem von 1976-1987 Direktor des Kernenergie-Forschungsprogramms der Bundesrepublik Deutschland und von 1991 bis 2006 Vorstandsvorsitzender des Forschungszentrums Karlsruhe.
Aktuelle wissenschaftlich Veröffentlichung: M. Popp, Misinterpreted Documents and Ignored Physical Facts: The History of 'Hitler's Atomic Bomb' needs to be corrected, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 39(3), 265 (2016). DOI: 10.1002/bewi.201601794

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