Biomedical Engineering
Die Revolution aus dem Reagenzglas
So wie Ingenieure im letzten Jahrhundert mit den Erkenntnissen der Physik unsere äußere Welt verändert haben, stehen Bioingenieure in diesem Jahrhundert an der Schwelle, mit den Werkzeugen der Biomedizin unsere innere Welt zu transformieren. Die Art und Weise, wie wir Krankheiten erkennen und behandeln wird sich dadurch fundamental verändern.
Das vergangene Jahrhundert gilt als das Zeitalter der Physik. Aus den grundlegenden Erkenntnissen entwickelten Ingenieurinnen und Ingenieure technische Anwendungen die die Welt veränderten. Von der Entwicklung von Computerfestplatten bis hin zu GPS und der Aussicht auf selbstfahrende Autos. „In diesem Jahrhundert wird es um die Kartierung, die Modifikation und die Kontrolle unserer inneren Welt gehen: von Genen, Geweben, Organsystemen und schließlich vom menschlichen Gehirn.“ Das sagt Michael I. Miller, Leiter der Abteilung Biomedical Engineering der Johns-Hopkins-Universität, einer der führenden Experten auf dem Gebiet des Biomedical Engineerings. Und zahlreichende Forschende sind sich einig: Hinter dem Begriff verbirgt sich nichts Geringeres als eine Revolution in der Wissenschaft und der Medizin. Eine Revolution, die bereits begonnen hat und deren Potenzial noch längst nicht ausgeschöpft ist.
Ein paar Beispiele: Die CRISPR-Cas9-Genschere, die es ermöglicht, gezielt Gensequenzen in lebenden Zellen zu verändern, um somit Krankheiten zu behandeln oder Nutzpflanzen resilienter gegen Klimastressoren und zugleich ertragreicher zu machen. Oder eben innovative Therapieformen: Ein Medikament, das nicht mehr vom gesamten Körpergewebe aufgenommen wird und womöglich ungewollte Nebenwirkungen zeigt, sondern ausschließlich dort wirkt, wo es wirken soll. Als hätte man ihm vor der Einnahme eine spezifische Adresse mitgeteilt.
Doch was meint Bioengineering überhaupt? Es ist ein interdisziplinäres Feld, in dem sich Wissenschaftler:innen, Ingenieur:innen und Mediziner:innen der Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung bedienen und medizinische oder biotechnologische Verfahren entwickeln. Eine trennscharfe Definition ist schwierig. Das liegt auch am Forschungsfeld selbst. Bioengineering ist ein Best-of aus diversen Forschungsbereichen, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben, beispielsweise Materialwissenschaften, Genetik, Physik, Bioinformatik und Zellbiologie. Über den interdisziplinären Ansatz hinaus ist die praktische Anwendung entscheidend. „Es geht darum, Wissen und Werkzeuge aus diesen Bereichen so miteinander zu kombinieren, dass sich die neu entwickelten Technologien auf biologische Systeme anwenden lassen. Egal ob in der Medizin, der Landwirtschaft oder dem Umweltschutz: Bioengineering ist extrem lösungsorientiert“, sagt Maike Sander. Die 56-Jährige leitet das Max Delbrück Center in Berlin. Seit über drei Jahrzehnten arbeitet die Forscherin im Bioengineering, verbrachte viel Zeit an renommierten Forschungseinrichtungen in den USA und erlebte aus erster Hand, wie Forschung, Lehre und Wirtschaft davon profitieren können.
Als Sander 2022 nach Deutschland zurückkehrte, um die Leitung des Max Delbrück Centers zu übernehmen, war sie überrascht, wie wenig präsent der Begriff Bioengineering hierzulande im Vergleich zu den USA oder Großbritannien ist. Hier gab es keine eigenen Abteilungen, keine Bachelor- oder Masterstudiengänge. Stattdessen einen ziemlich weißen Fleck auf der Forschungslandkarte. Und das obwohl alles vorhanden ist, um das Feld zu bespielen.
Sander ist optimistisch, dass sich diese Lücke sehr schnell schließen lässt. Einerseits müsse dafür entsprechend in die Ausbildung und Infrastruktur investiert werden. Andererseits können Institutionen wie die Helmholtz-Gemeinschaft schon jetzt einen wesentlichen Beitrag leisten. „Wir haben dafür alles, was es braucht, denn wir sind äußerst interdisziplinär. Bei uns geht es nicht nur um Medizin oder Biologie. Wir haben Institute wie das DESY in Hamburg oder das Helmholtz-Zentrum Berlin, wo Physiker:innen und Ingenieur:innen mit Teilchenbeschleunigern arbeiten. In Dresden-Rossendorf forschen wir zu neuen Materialien. Jetzt geht es vor allem darum, diese einzelnen Bereiche miteinander zu verknüpfen.“
Helfen soll dabei eine unter anderem die kürzlich gegründete Biomedical Engineering Taskforce. Sie nutzt die Expertise und Infrastruktur einer Vielzahl von Helmholtz-Forschungszentren über den Bereich Gesundheit hinaus um die „Biomedical Engineering-Revolution“ weiter voranzutreiben und Forschung und Industrie besser miteinander zu verbinden. So werden innerhalb der nächsten Jahre sechs Kernprojekte entwickelt – vom Konzept bis zur marktreifen Anwendung.
Eines der Projekte widmet sich der Entwicklung neuer molekularer Diagnostika für die frühzeitige Erkennung und Prävention von Volkskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Demenz oder Diabetes. Im Idealfall können durch biomedizinische und KI-gestützte Multi-Omics-Verfahren viele verschiedene Arten biologischer Proben auf mehreren Ebenen analysiert werden, etwa aus der Genomik (DNA), Proteomik (Proteine) oder Metabolomik (Stoffwechselprodukte). So lassen sich neue Erkrankungen oder Rückfälle viel früher als bisher erkennen, möglicherweise noch vor dem Auftreten klinischer Symptome.
Im Rahmen eines anderen Projekts werden die Methoden synthetischer Biologie genutzt, um Immunzelltherapien weiterzuentwickeln. „Stellen wir uns eine Krebsbehandlung vor“, erklärt Maike Sander. „Wir sind inzwischen in der Lage, die körpereigenen Immunzellen des Patienten zu modifizieren, sodass sie sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten und tatsächlich nur den Krebs bekämpfen, statt obendrein unerwünschte Nebenwirkungen hervorzurufen.“
Die Möglichkeiten des Biomedical Engineering, sie scheinen beinahe grenzenlos. „Die Mission von Helmholtz Biomedical Engineering ist einfach, aber kühn: Pionierarbeit für Lösungen, die die Gesundheit verbessern“, sagt Maike Sander. „Helmholtz ist ideal positioniert, um die erforderliche Expertise aus verschiedenen Forschungsbereichen sowie akademische und industrielle Partner zusammenzubringen, um die Grenzen der interdisziplinären Innovation zu erweitern. Die Initiative wird entlang der gesamten translationalen Wertschöpfungskette arbeiten, vom Aufbau neuen Wissens über biologische Systeme, über die Entwicklung und Validierung von Prototypen bis hin zu klinischen Studien. Dadurch werden die dringend benötigten neuen Lösungen für die frühere Erkennung von Krankheiten, die präzise Prävention und verbesserte Therapien geschaffen.“
Des einen Wunschvorstellungen aber sind oft des Anderen Ängste. Die Skepsis gegenüber innovativen Technologien, insbesondere im Bereich der synthetischen Biologie, sind in Deutschland größer als in den USA, weiß Sander aus Erfahrung. Auch deswegen plädiert sie für einen transparenten und ethisch-moralisch einwandfreien Umgang mit dem Forschungsfeld. Denn nur dann wird es gelingen, das volle Potenzial der Bioengineering-Revolution herauszuholen.
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