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Forschung

Die Problemlöser

Edward Jenner; Pocken

<b>Pioniertat</b> Edward Jenner verabreicht einem Kind eine Impfung gegen die Pockenkrankheit. Bild: adoc-photos/Corbis

Der Wissenschaft gelingen immer wieder Durchbrüche, mit denen sie die Gesellschaft verändert. Eine Mutmach-Geschichte

Am Anfang glaubte Janet Parker an eine Grippe, als sie sich im Sommer 1978 urplötzlich schlecht fühlte. 40 Jahre alt war die Engländerin, die mit ihrem tragischen Schicksal in die Medizingeschichte eingehen sollte: In Wirklichkeit hatte sie sich mit Pocken infiziert, wenige Wochen später starb sie auf einer Isolierstation. Sie ist die vermutlich letzte Pockentote in der Geschichte der Menschheit – das letzte Opfer in einer Schlacht, aus der die Medizin als heldenhafte Siegerin hervorgegangen ist.

„Das war ein riesiger Sprung in der Geschichte der Gesundheit“, sagt Heiner Fangerau, der Leiter des Kölner Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin. „Bis heute dient die Ausrottung der Pocken als Muster für die Bekämpfung anderer Seuchen. Polio zum Beispiel hofft man auf diese Art besiegen zu können – und irgendwann einmal auch Ebola.“ Eine konsequente Impfpolitik stand vor vierzig Jahren hinter dem Erfolg im Kampf gegen die Pocken, befeuert durch eine konzertierte Kampagne der Weltgesundheitsorganisation (WHO). „Sicherlich hat damals eine Rolle gespielt, dass es seit langer Zeit gute Erfahrungen mit einer Impfung gab“, sagt Fangerau: Der britische Landarzt Edward Jenner hat schon 1796, fast zweihundert Jahre zuvor, zum ersten Mal eine Pockenimpfung verabreicht, die er aus den für Menschen harmlosen Kuhpocken gewonnen hatte. Von dieser Pioniertat stammt der Begriff Vakzination – es hat seinen Ursprung im lateinischen Wort für Kuh: vacca. Eine flächendeckende Wirkung indes hatte die Pockenimpfung nicht gezeigt. „Als die WHO 1967 ihren Feldzug begann, befiel die Seuche jährlich noch etwa 2,5 Millionen Menschen“, schreibt der Spiegel im Jahr 1979 – kurz nach dem Tod der Engländerin Janet Parker, des letzten Pocken- Opfers. Wissenschaftliches Knowhow, gepaart mit politischer Entschlossenheit, hat schließlich nach jahrelangem Kampf zum Erfolg geführt.

Immer wieder gelingt es Forschern, mit ihrer Arbeit Menschheitsprobleme zu lösen. Manchmal sind es spektakuläre Durchbrüche, die auf einen Schlag die Welt verändern; häufig ziehen etliche Wissenschaftler- Gruppen viele Jahre lang am selben Faden, bis sie nach schrittweisen Verbesserungen schließlich ein grundstürzendes Ergebnis erzielen. Die Entwicklung der Leuchtdiode, die nach und nach die energiefressenden Glühlampen ersetzt, ist ein Beispiel dafür – die Forscher, die der neuen Technik Bahn gebrochen haben, sind für ihre Arbeit in diesem Jahr mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden. Ein anderer Anlass, wo Durchbrüche gefeiert werden, ist die Falling Walls-Konferenz, die jährlich in Berlin stattfindet. Hier treffen sich Wissenschaftler aus sämtlichen Disziplinen mit Wirtschaftsführern, Politikern und Kulturschaffenden, um sich zu vernetzen und um neue Ideen für ihre Arbeit zu gewinnen. Um hochauflösende Lichtmikroskope geht es da, aber beispielsweise auch um Traumaforschung oder Korruption; allesamt Bereiche, in denen Forscher an Lösungen arbeiten.

Ziehen alle gemeinsam an einem Strang, lassen sich auch gewaltige gesellschaftliche Probleme in den Griff bekommen

<b>Zersetzung gestoppt</b> Auch dank der Leistung von Forschern schließt sich das Ozonloch über der Antarktis allmählich wieder. Bilder: NASA

Die jüngste Nachricht von einem spektakulären Durchbruch, der dank der Leistung von Forschern gelungen ist, liegt erst wenige Monate zurück. Tagelang hat sie Markus Rex in die Schlagzeilen gebracht, der sich als Atmosphärenphysiker am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, mit dem Ozonloch beschäftigt. „Wir können davon ausgehen, dass der Spuk in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts vorbei ist“, erklärte er in den Interviews immer wieder: Die gefährliche Zersetzung der Ozonschicht ist gestoppt, allmählich schließt sich das Ozonloch sogar wieder – das ist die Essenz eines bahnbrechenden Berichts der Word Meteorological Organization, an dem Rex mitgewirkt hat.

Wenn Forscher in aller Welt einmütig auf ein Problem hinweisen, wie in den 80er Jahren auf das Ozonloch, steigt der Handlungsdruck auf die Politik

Bild: NASA

Die Erfolgsgeschichte nimmt zu einer Zeit ihren Ausgang, als Rex selbst noch Abiturient war: 1984 veröffentlichten Wissenschaftler erstmals ihre beunruhigenden Messungen, nach denen der Ozongehalt in der Atmosphäre über der Antarktis dramatisch sinke. „In der Wissenschaft gab es sehr schnell eine große Einigkeit über Ursache und Wirkung, auf das Problem haben Forscher in aller Welt einmütig hingewiesen“, sagt Markus Rex – der Druck auf die Politik war dadurch gewaltig. Gerade einmal drei Jahre nach den ersten Meldungen, im Jahr 1987, haben fast alle Regierungen auf der Welt das so genannte Montreal-Protokoll unterzeichnet, mit dem Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) verboten worden sind. Die hochgradig schädlichen Substanzen kamen unter anderem in Spraydosen und Kühlschränken zum Einsatz und gelten als Hauptursache für die zerstörte Ozonschicht.

„Der Fall zeigt“, sagt Markus Rex, „dass sich auch gewaltige Probleme in den Griff bekommen lassen, wenn alle an einem Strang ziehen.“ Bis 2050 dürfte nach derzeitigen Prognosen in der Arktis der Zustand von 1980 wieder hergestellt sein, gute zwei Jahrzehnte später auch über dem Südpol. Diese Erfolgsgeschichte weckt bei vielen Klimaforschern Hoffnungen für ein anderes drängendes Problem – um den Ausstoß des Treibhaus- Gases Kohlendioxid zu reduzieren, wünschen sie sich eine ähnlich effiziente Vereinbarung wie das Montreal-Protokoll. „Man kann die Fälle aber leider nicht ganz vergleichen“, sagt Rex. „Für FCKW gab es damals schon Ersatzsubstanzen, so dass der  Umstieg keine Probleme verursacht hat. Bei Kohlendioxid hingegen wären weitreichende Einschnitte und Verhaltensänderungen nötig.“

Aus dem Durchbruch in Sachen Ozon könne man indes noch eine weitere wichtige Lehre ziehen: „Die Wissenschaft braucht die Geduld und die Ressourcen für Langzeitbeobachtungen. Seit 1957 hat der Forscher Joe Forman in der Antarktis Messungen durchgeführt, und jedes Jahr waren die Ergebnisse die gleichen. Nur weil er trotzdem durchgehalten hat, konnte er dann in den 80er Jahren die dramatischen Veränderungen an den Ozonwerten überhaupt feststellen“, sagt Markus Rex.
Eine Geschichte von Geduld und Durchhaltevermögen ist es auch, die auf dem Forschungsgebiet von Martin Winter ein lange unüberwindliches Problem gelöst hat. Der Chemiker leitet an der Universität Münster das Batterie-Forschungszentrum „MEET“ (Münster Electrochemical Technology) und ist designierter Gründungsdirektor des Helmholtz-Instituts Münster, das derzeit entsteht. Er erinnert sich noch gut an die Begrenzungen der früheren Technik: „Wenn man konventionelle Nickel-Akkumulatoren in ein tragbares Gerät eingebaut hat, reichte die Ener-gie immer nur für kurze Zeit“, sagt er. Den Durchbruch brachte schließlich im Jahr 1991 eine Technik, an der Grundlagenforscher und Entwicklungsingenieure in Chemie- und Elektronikkonzernen seit Jahren gearbeitet hatten: der Lithium-Ionen-Akku. „Er beruht auf einem komplexen elektrochemischen Verfahren, das nicht einfach zu kontrollieren ist“, erklärt Winter. Bis der neuartige Akku marktreif war, hat es deshalb lange gedauert – aber er hat schlagartig fast alle Probleme gelöst, die es damals wegen der mangelhaften Speicher-Möglichkeit für Energie gegeben hatte. „Zum ersten Mal kam der Akku in einem Camcorder von Sony zum Einsatz. Bei diesem Gerät hat sich die Laufzeit auf einen Schlag mehr als verdoppelt“, sagt Martin Winter.

<b>Auf den Speicher kommt es an</b> Elektroautos brauchen langlebige und leistungsstarke Akkus. Bild: Martin Schuh/istockphoto

Der erste moderne Akku kam in einem Camcorder von Sony zum Einsatz

Eine ganze Palette von tragbaren Produkten, die heute zum Alltag gehören, setzte sich dank der Lithium-Ionen-Akkus am Markt durch: Bei Mobiltelefonen etwa, deren Ära in den 90er Jahren begann, setzten die Hersteller von vornherein auf die leistungsstarken Akkus, auch tragbare Musikspieler, Digitalkameras und Laptops verdanken ihre Verbreitung nicht zuletzt der Lithium-Ionen- Technik. Die neuartigen Akkus sind aber zugleich ein Beispiel dafür, wie ein gelöstes Problem schon bald unter neuen Vorzeichen wieder auftauchen kann: Die Batterieforschung steht plötzlich wieder im Scheinwerferlicht. Für Elektroautos beispielsweise werden leistungsstarke und zugleich leichte Akkus benötigt, auch das Projekt der Energiewende setzt auf innovative Speichertechniken, um die Sonnen- und Windenergie aus Spitzenphasen konservierbar zu machen. „Die Entwicklung hat in den 2000er Jahren einen neuen Schub bekommen, als eine Firma erstmals einen Akkuschrauber mit der Lithium-Ionen-Technik auf den Markt gebracht hat. Das war der praktische Beweis dafür, dass sich die Akkus auch im Hochleistungsbereich einsetzen lassen“, sagt Martin Winter. Derzeit setzt er mit seinen Kollegen einen Schwerpunkt im Bereich der Hochvolt-Batterien – und weiß, dass die Forschung auf dem Feld wieder vor einem neuen Anfang steht. „Bei Batterien arbeiten wir immer im Spannungsfeld zwischen Leistung, Energie, Lebensdauer, Kosten und Sicherheit“, erläutert er. „Während es zum Beispiel für ein Handy reicht, dass ein Akku vier Jahre durchhält, müssen wir jetzt für Autos und vor allem für große Energiespeicher auf einmal mit einer Lebensdauer von bis zu zwei Jahrzehnten rechnen.“ Zugleich müssen die Akkus deutlich billiger werden, um im Straßenverkehr zu einer ernsthaften Konkurrenz zur fossilen Energie zu werden. Dass die Antwort darauf erst einmal keine revolutionär neue Batterie sein dürfte, sondern eine stetige Verbesserung der Lithium-Ionen-Technik, davon ist Martin Winter überzeugt: „Die Entwicklung verläuft evolutionär, die Technik können wir sicher noch in den nächsten 15 Jahren stetig verbessern. Da ist noch viel Luft drin!“

<b>Lebensretter</b> Die Herz-Lungen-Maschine hat die Chirurgie revolutioniert. Bild: KEYSTONE Hamburg

So ähnlich wie in der Batterietechnik kann auch in der Medizin ein einzelner Durchbruch eine ganze Disziplin für immer verändern.

Die Erfindung der Herz-Lungen- Maschine war für die Chirurgie ein Quantensprung

Seit im Jahr 1953 zum ersten Mal ein stillstehendes Herz operiert wurde, während die neuartige Herz-Lungen-Maschine den Kreislauf der Patientin weiter in Gang hielt, hat sich die Kardiologie dank der neuen Möglichkeiten gewaltig weiterentwickelt. „Für die Chirurgie war das ein Quantensprung, den man vielleicht noch mit der Einführung der Anästhesie vergleichen kann“, sagt Heiner Fangerau, der Kölner Medizinhistoriker. Seine Disziplin kennt etliche Heldengeschichten wie eben jene des Arztes John Gibbon, der diese erste Operation am stillstehenden Herzen wagte – aber mindestens genauso häufig, berichtet Fangerau, gibt es die Geschichten der Misserfolge und der überschätzten Möglichkeiten.

Für die Mediziner war 1971 ein Jahr, das mit einer solchen spektakulären Fehleinschätzung verbunden ist: Damals brachten die USA den National Cancer Act auf den Weg. Vollmundig verkündeten Politiker und Forscher, dass der Krebs innerhalb von fünf Jahren ausgerottet sein werde – eine Annahme, die von den gigantischen 1,6 Milliarden Dollar genährt wurde, die in dieser Zeit in die Forschung fließen sollten. „Das Muster dahinter ist auch heute noch verbreitet“, sagt Heiner Fangerau: „Der Hoffnung, dass man ein Problem schon in den Griff kriegen werde, wenn man nur mit ausreichend großem Aufwand daran arbeitet, erliegen auch heute noch viele.“

Unterschätzt werden dabei die wichtigsten Faktoren, die hinter allen diesen spektakulären Problemlösungen in der Wissenschaft stehen, sei es die Pockenausrottung oder die Schließung des Ozonlochs: Ausdauer, zündende Ideen – und immer auch jede Menge Glück.

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