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Citizen Science

Die Experten von nebenan

<b>Laienforscher</b> Frank Clemens zählt in seiner Freizeit Schmetterlinge für die Wissenschaft. Bild: David Ausserhofer

Überall in Deutschland greifen Menschen nach Feierabend zu Fernglas, Notizblock oder Smartphone und helfen Forschern bei ihrer Arbeit. Sie sind Teil einer weltweit wachsenden Bewegung, die sich Citizen Science nennt

Kurz vor der Mittagspause geht Frank Clemens auf seine Wiese, um Schmetterlinge zu zählen. Seine Wiese – so nennt der Maschinenbaumeister eine 250 Meter lange Strecke hinter dem Firmengelände im Norden Berlins. Ein kleiner Pfad führt ihn erst an einem trägen Bach entlang, dann an einer Grünfläche vorbei, zwischen ein paar Bäumen hindurch und zuletzt zu einem Hang mit vielen Brennnesseln. „Einige Falter lieben Brennnesseln und sind von ihrem Vorkommen abhängig“, erzählt der 54-Jährige, „diese  werden aber fast überall gemäht oder vernichtet, und mit ihnen verschwinden die Raupen der Tiere. So können sie als Falter nicht mehr schlüpfen.“ Auf dem Firmengelände hat Clemens sich für den Erhalt der Nesseln eingesetzt, wo er auch einen Nutzen darin sieht.

„Meine beiden Chefs finden es gut, dass ich mich für die Natur einsetze“

Seine Leidenschaft für Schmetterlinge hat sich im Betrieb, der feine medizinische Geräte herstellt, längst herumgesprochen. Sie hat ihn gepackt, als er gerade zwölf Jahre alt war und am Waldrand bei seiner Oma den Sommer mit dem Schmetterlingskescher verbrachte. Heute kennt er fast 900 Arten. „Bei der Arbeit haben viele Kollegen Respekt vor meinen Beobachtungen“, sagt er mit Blick darauf, dass er regelmäßig in der Mittagspause hinausgeht zu seinen Schmetterlingen. „Meine beiden Chefs finden es gut, dass ich mich für die Natur einsetze“. Zweimal in der Woche geht er seinen Weg ab. Eine zweite Zählstrecke hat er in der Nähe seines Wohnortes. Er zählt und notiert, welche Schmetterlingsarten er dabei sieht: das Waldbrettspiel, den Admiral, das Landkärtchen oder, als Highlight, den Kleinen Schillerfalter.

Frank Clemens‘ Aufzeichnungen gehen am Ende der Saison an das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ)  am Standort Halle, gemeinsam mit den Beobachtungen von weiteren 700 freiwilligen Helfern aus ganz Deutschland. Am UFZ werten Wissenschaftler die Daten aus. Tagfalter-Monitoring nennen sie ihr Projekt, in dem sie seit 2005 nahezu lückenlos erfassen, welche Falterarten wo in Deutschland leben und wie sich die Bestände verändern. Ihre Arbeit lebt von den Freiwilligen, die sich ein Stück Wiese oder einen Waldrand suchen und mindestens einmal die Woche zählen gehen, über Jahre hinweg: Rentner und Studenten, Laien, Wissenschaftler und Naturschützer – und Menschen wie Frank Clemens. Für sie alle gibt es einige Begriffe, von denen aber keiner richtig zutrifft. „Hobby-Wissenschaftler“, das klingt belächelnd.„Bürgerwissenschaftler“, das klingt bürokratisch. Der englische Begriff passt besser: Citizen Science bedeutet, dass Bürger sich an der Wissenschaft beteiligen; sie bringen ihr Wissen, ihre Zeit, ihr Können mit ein.

<b>Erfahrung nutzen</b> Krabbenfischer melden die Fischarten in ihrem Beifang. Bild: Sina Löschke/AWI

Citizen Science ist aber nicht einseitig. Es bedeutet, dass sich im Gegenzug die Wissenschaft öffnet und Platz schafft für Laien. Sie können etwa dank einer speziell entwickelten Smartphone-App Daten über die Lichtverschmutzung am Nachthimmel sammeln, im Internet an einem Protein puzzeln oder bei der Auswertung von Galaxienbildern helfen.
Citizen Science boomt; es ist eine Gegenbewegung zu dem Bild von einer Wissenschaft, die stark formalisiert ist und im Rufe steht, sich streng abzuschotten. Der aktuelle Trend kommt aus Großbritannien, dabei ist das Prinzip alt: Bevor sich die Wissenschaft in Akademien und Labore zurückzog, gab es viele Bürgerwissenschaftler, die sich ihr Wissen selbstständig angeeignet und es damit weit gebracht haben – ein prominentes Beispiel ist der Evolutionsforscher Charles Darwin.

Heute stehen Museen an der Spitze der Öffnungsbestrebungen. Einer der Vorreiter ist das Berliner Museum für Naturkunde. „Ich sehe mehrere Gründe für die Begeisterung“, sagt Katrin Vohland, die dort den Bereich Citizen Science betreut: „Zum einen gibt es die neuen Medien, Smartphones und Serverkapazitäten, die komplexere Beteiligungen von Bürgern an Wissenschaft erlauben. Gleichzeitig ist Citizen Science Teil einer gesellschaftlichen Bewegung.“ Die Menschen wollten sich stärker engagieren; das gehe einher mit einem hohen Bildungsstandard und flexibleren Biografien.

Für die Wissenschaft liegt der Reiz darin, dass sich das Sammeln von Daten dezentralisieren lässt. Bei der Frage, wie sehr sie die Bürger einbinden, unterscheiden sich die verschiedenen Projekte allerdings stark. Beim Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin etwa können Hobby-Forscher online auf dem Portal Beee eintragen, wenn sie in Berlin ein Wildschwein oder einen Igel sichten. Mit Wildschweinen müssen sich die Städter den urbanen Raum teilen, und Igel sind – ebenso wie Schmetterlinge – Sympathieträger, da lassen sich viele Helfer gern motivieren. Die Koordinatorin Karoline Weißhuhn sieht in diesem Projekt aber auch einen Bildungsauftrag: „Wir wollen uns Gedanken darüber machen, wie aus Citizen Science ein flüssiger Austausch zwischen Wissenschaft und Bürgern entstehen kann“, sagt sie. Bisher können die Mitwirkenden die Datensammlung auf der Onlineplattform verfolgen. Dadurch weckt das Projekt die Neugier – und schärft die Sinne für Natur im urbanen Raum.

<b>Citizen Science-Pioniere</b> Johannes Vogel und Kathrin Vohland vom Berliner Museum für Naturkunde. Bild: Ernst Fesseler

Bei anderen Projekten ist der Dialog zwischen Wissenschaft und Bürgern komplexer. Der Biologe Kai Wätjen vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, bindet unter dem Arbeitstitel GAP2 lokale Krabbenfischer ein, um Daten über bestimmte Fischarten in der Nordsee zu sammeln. Sie schreiben auf, welche seltenen Fische als Beifang in ihren Netzen landen und geben die Daten an Kai Wätjen weiter. „Die Fischer verfügen über ein großes Knowhow darüber, was sich im Fischfang verändert“, sagt Wätjen. „Klassischerweise geht der Wissenschaftler vielleicht alle paar Monate raus ins Feld. Die langjährige Erfahrung der Fischer aber kann viel mehr bieten.“

Sein Projekt basiert deshalb nicht auf der Masse an Daten, sondern auf dem Wissen von Menschen, die sich auskennen. Ihr Vertrauen hat Wätjen gewonnen, weil er sich Zeit genommen hat – und weil seine Ergebnisse auch für die Fischer nützlich sein können. Mit Informationen dazu, welche Fisch-Exoten in den Gewässern zu finden sind und wie sich zum Beispiel die Bestände der Nordseekrabben verändern, kann die Wissenschaft Impulse geben für das Gespräch zwischen Fischern und Naturschützern.

„Ich bin Wissenschaftler und Kommunikator“

Schon jetzt sind aus dem noch jungen Projekt zahlreiche Ideen für die Praxis entstanden. Citizen Science kann und soll also auch nach außen wirken: „Ich bin Wissenschaftler und Kommunikator“, sagt Wätjen über sich selbst. Diesen Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft hält auch Johannes Vogel für zukunftsweisend. Er ist Generaldirektor des Museums für Naturkunde in Berlin, vorher hat er viele Jahre im Natural History Museum in London gearbeitet und die Citizen Science-Bewegung in Deutschland von Anfang an begleitet.

Für etliche Projekte hat er die Schirmherrschaft übernommen. „Citizen Science ist eine Herausforderung an die Wissenschaft als solche. Sie muss sich dem gesellschaftlichen Diskurs stellen“, sagt er. Das reine Sammeln von Daten, wie es zum Beispiel im Tagfalter-Monitoring passiert, sieht Vogel als Anfang einer Entwicklung, die die Wissenschaft umkrempeln kann: Aus der Zivilgesellschaft heraus könnte im Zuge der Öffnung von Forschungsvorhaben schon bald Einfluss genommen werden auf Forschungsfragen und auf die Verteilung von Forschungsgeldern.

Für manche Wissenschaftler indes ist das alarmierend, sie fürchten um die Unabhängigkeit der Forschung. Vogel hält das für eine Ausrede: „Natürlich soll den Forschern nicht vorgeschrieben werden, was geforscht wird“, sagt er. „Wissenschaftler müssen sich dann zwar stärker rechtfertigen, stärker Mehrheiten finden, aber diese Entwicklung führt auch zu mehr Transparenz – und letztlich zu mehr Relevanz.“ Billiger ist diese Form der Wissenschaft übrigens nicht, denn Citizen Science kostet Geld, wenn es ernsthaft betrieben wird: Es erfordert Personal, Fortbildung und die Beteiligung von speziell geschulten Sozialwissenschaftlern. Die Mühe aber lohne sich, sagt Johannes Vogel: „Ich wünsche mir, dass es in zehn Jahren an jeder Universität, jeder Forschungseinrichtung, ein Büro für Bürgerwissenschaften gibt, das dann Fachgesellschaften, Gruppen, Initiativen und Freiwillige aller Art koordiniert.“ Der Anfang dazu wurde Ende Januar mit der Gründung des Vereins European Citizen Science Association (ECSA) gemacht, dem Vogel vorsitzt. Dem Netzwerk haben sich Museen, Universitäten und Forschungseinrichtungen aus zehn EU-Ländern angeschlossen, darunter auch das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung. Im Verbund will man konkrete Projekte umsetzen, die über den Naturschutz hinausgehen und sich zum Beispiel Fragen der Stadtgestaltung widmen.

<b>Alte Falter digitalisiert</b> Am Berliner Museum für Naturkunde erhalten Insekten einen QR-Code, der zum Artnamen und Fundort führt. Bild: Ernst Fesseler

„Manche Projekte zeugen eher von Begeisterung als von zukunftsweisender Planung“

Aber das Netzwerk will auch klären, wo die Grenzen von Citizen Science liegen: Welche Forschungsbereiche eignen sich für Projekte und welche eben nicht? Welche Anforderungen an den Datenschutz gelten – und in welchem rechtlichen Rahmen bewegt sich die Bürgerbeteiligung überhaupt? „Es entstehen natürlich auch viele Projekte, die vielleicht eher von der Begeisterung am Citizen Science zeugen, als von wissenschaftlicher Standardisierung und zukunftsweisender Planung“, sagt Elisabeth Kühn, die am UFZ das Tagfalter-Projekt koordiniert. „Insofern ist es eine Gratwanderung zwischen Wissenschaft und Umwelt- oder Naturschutzbildung“.

Dass es gerade Museen sind, die den neuen Methoden besonders offen gegenüberstehen, sei nicht verwunderlich, findet Katrin Vohland vom Berliner Museum für Naturkunde: „Museen stellen sich zunehmend der Frage nach Relevanz und Zugänglichkeit von Wissen.“ An ihrer Einrichtung ist vor kurzem ein Projekt gestartet, das sich genau damit auseinandersetzt: Die kompletten Insektenbestände, darunter die Schmetterlingssammlung, werden digitalisiert und mit Metadaten zum Fundort und zur Klassifizierung sowie mit einem QR-Code versehen. So sollen die Sammlungen digital verfügbar werden, für Wissenschaftler und Laien gleichermaßen. „Nicht alle Sammlungen eines Museums werden ausgestellt“, sagt Vohland, „Mit der Digitalisierung versuchen wir, die Bestände trotzdem für Interessierte und für die Forschung zu öffnen.“

Der Schmetterlingsbeobachter Frank Clemens hat mit seiner Einbindung in das Schmetterlingsprojekt eine interessante Aufgabe hinzubekommen. Mittlerweile ist er Landeskoordinator für die freiwilligen Helfer beim Tagfalter-Monitoring in Berlin und Brandenburg. Wenn sich in seinem Bereich ein neuer Interessent findet, sucht er mit ihm eine geeignete Strecke und erklärt ihm, worauf zu achten ist. Wenn seine Schützlinge ihre Listen bei ihm abgeben, sieht er sie alle durch: „Mir ist es wichtig, dass möglichst keine Fehler in die Wissenschaft kommen“, sagt er. Auch zu Konferenzen und Seminaren wird Frank Clemens eingeladen. So viel Engagement erfordert eine Menge Zeit, vor allem am Wochenende. „Im Urlaub sind wir immer dorthin gefahren, wo es seltene Schmetterlinge zu sehen gibt“, sagt Clemens, „meine Kinder waren davon nicht immer begeistert.“ Seine Frau aber störe diese Leidenschaft nicht. Sie ist selbst engagierte Botanikerin – ebenfalls in der Freizeit.

Wissenschaft im Dialog und das Naturkundemuseum Berlin stellen am Dienstag, 22. April 2014 die neue Online-Plattform www.buergerschaffenwissen.de zu Citizen Science vor.

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