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30 Jahre Tschernobyl

Der Mensch als Risikofaktor

Anlegen des Sicherheitsanzugs zur Arbeit am Forschungsreaktor Rossendorf. Foto: ZfK

Eckhard Krepper war vor 30 Jahren Doktorand am Zentralinstitut für Kernforschung (ZfK) Rossendorf. Auch heute beschäftigt sich der Physiker im Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf (HZDR) noch mit Themen rund um die Sicherheit von Kernreaktoren.

Wenn ich an das Jahr 1986 denke, geht mir vieles durch den Kopf. Ich machte mir damals große Sorgen um die Menschen in der Ukraine und wunderte mich gleichzeitig gemeinsam mit meinen Kollegen sehr darüber, warum die „Friedensfahrt“ – ein Radrennen, das bis dahin durch Tschechien (damals CSSR), Polen und die DDR führte – ausgerechnet in diesem Jahr auf die Ukraine ausgedehnt wurde. Offensichtlich wurden die Folgen dieses gigantischen Störfalls nicht in allen Teilen der Welt gleich ernst genommen. 

Damals war ich Doktorand in der Abteilung Energie des ZfK Rossendorf. Dort nahm man an, dass die Zahl der Kernreaktoren schnell weiter anwachsen würde und dadurch sehr bald Spaltstoffe rar werden. Meine Kollegen in der Gruppe Reaktortheorie arbeiteten unter anderem an Technologien wie beispielsweise dem Schnellen Brüter. Meine Arbeit beschäftigte sich speziell mit Schnellen Brutreaktoren, die in einem geschlossenen Brennkreislauf den nötigen Spaltstoff erzeugen sollten.

Das einzige kommerziell betriebene Kernkraftwerk der DDR stand in Greifswald. Außerdem gab es noch einen Reaktor in Rheinsberg, der bereits 1966 in Betrieb ging und mit seinen 70 Megawatt als Forschungsreaktor ziemlich groß war. Er wurde daher sowohl zu Forschungszwecken als auch für die Energieerzeugung genutzt. Diese Reaktoren waren von der damaligen Sowjetunion „schlüsselfertig“ geliefert worden, sodass es kaum Sinn machte, konkret zu Fragen der Reaktorentwicklung zu forschen. Die Arbeiten richteten sich daher auf Fragen des Reaktorbetriebes – Steuern und Regeln – und auf diagnostische Fragen. Ein großes Thema war zum Beispiel die Rauschdiagnostik, die sich damit befasste, sich andeutende Fehler im Reaktorbetrieb aus der Signalkette herauszufiltern.

Inhärente Sicherheit

Die Sowjetunion hat Druckwasserreaktoren immer auch ins Ausland exportiert, den Typ RBMK, wie er in Tschernobyl am Netz war, betrieb sie dagegen nur innerhalb der eigenen Grenzen. Natürlich kannten wir diesen Reaktortyp am ZfK. Ich erinnere mich an eine Promotionsverteidigung, die wohl im März 1986 stattgefunden haben muss, wo in einer Diskussion zu den leichtwassergekühlten Reaktoren die einhellige Meinung herrschte, dass sich in diesen Reaktoren wegen der vielen negativen Rückkopplungseffekte die Kettenreaktion nicht selbständig verstärken könne. Alle waren sich einig, dass es sich bei dem graphitmoderierten Siedewasser-Druckröhrenreaktor (RBMK) um eine sichere Technologie handelte. Heute wissen wir, dass – anders als bei Druckwasserreaktoren – die inhärente Sicherheit nicht gewährleistet war. Das System kann in einen grenzwertigen Betriebszustand hineinmanövriert werden, in dem unter bestimmten Umständen ein „positiver Reaktivitätskoeffizient“ greift – mit katastrophalen Folgen.

Tschernobyl hat uns gelehrt, dass die Reaktorschmelze mit allen bekannten Folgen nicht nur durch einen technischen Defekt, sondern auch durch Fehleinschätzungen und in deren Folge durch Fehlbedienung eintreten kann. Wir hatten uns mit diesem und den anderen Reaktoren theoretisch sehr intensiv beschäftigt. Für uns war eine Kernschmelze in solch einem Ausmaß wie in Tschernobyl unvorstellbar. Eine von vielen unserer ersten naiven Hypothesen lautete: Ein Baukran könnte eventuell auf den Reaktor gestürzt sein. Immerhin waren zu dieser Zeit noch zwei weitere Blöcke in Tschernobyl im Bau.

Nur wenige Tage später wussten wir dann Bescheid. Wir hatten Zugang zu Informationen, aus dem Osten und dem Westen. Jeder DDR-Bürger konnte Radio und fast jeder auch Fernsehen aus dem Westen beziehen. In Rossendorf standen alle Informationen auch aus westlichen Forschungseinrichtungen zur Verfügung, wo sehr schnell der Unfall und seine Folgen minutiös beschrieben und untersucht wurden. Ich erinnere mich genau an den Moment, als in der „Aktuellen Kamera“, der DDR-Hauptnachrichtensendung im Fernsehen wenige Tage nach dem Unfall Bilder vom zerstörten Reaktorblock in Tschernobyl gezeigt wurden. Das war ein großer Schock.

Auch auf russischer Seite gab es keine Möglichkeit, die Katastrophe zu vertuschen, da bereits in anderen Ländern, wie etwa in Schweden, eine erhöhte radioaktive Belastung gemessen worden war, die auf einen Störfall in der Sowjetunion hindeutete. Es war ja die Zeit Gorbatschows, seine Politik der Offenheit steckte damals allerdings noch in den Kinderschuhen. Ich glaube beispielsweise nicht, dass die unmittelbar betroffene ukrainische Bevölkerung von Anfang an umfassend über das Geschehen und die entsprechenden Konsequenzen informiert wurde. Dass die Informationen erst spät kamen, lag sicherlich an vielem, nicht zuletzt auch am Schock. Ich denke, dass alle überfordert waren. Die Feuerwehr startete sofort hilflose Rettungsversuche, es gab für diesen Extremfall offensichtlich keine Rettungspläne… 

Kollegen vom Kurtschatow-Institut in Moskau, die ich später kennengelernt habe, waren später mit vor Ort und haben bei den Aufräumarbeiten geholfen. Damit haben sie nicht geprahlt, man konnte es aber aus ihren Andeutungen schließen. Ich vermute, dass es für die russischen Kerntechniker eine Sache der Ehre war, sich für solche Einsätze freiwillig zu melden.

Wandel des Sicherheitskonzepts

Heute weiß man, dass es bei komplexen Technologien, wie einem Kernkraftwerk, viele sicherheitsrelevante Parameter und kritische Pfade gibt, die man zwar einzeln betrachten, deren Risiken man aber im Zusammenhang sehen muss. In der Anfangszeit der zivilen Nutzung der Kerntechnik glaubten die Forscher, dass man mit der Beherrschung des „größten anzunehmenden Unfalls“ (in der Diskussion auch als GAU abgekürzt) auch alle kleineren Störungen automatisch sicher beherrscht. Als GAU wurde damals der Bruch einer Hauptkühlmittelleitung angesehen. Das Sicherheitssystem des Reaktors wurde daher so ausgelegt, diesen Störfall durch ein gestaffeltes System von Noteinspeisungen sicher zu beherrschen. Diese Sicht änderte sich bereits nach dem Unfall im amerikanischen Harrisburg im Jahr 1979. Dort führte eine Verkettung von, für sich betrachtet, harmlosen Umständen schließlich zur Kernschmelze. Es wurde danach viel komplexer im Rahmen der „Probabilistischen Sicherheitsanalyse“ an diese Fragen herangegangen. Übrigens kam es bei diesem großen Störfall zu keiner Freisetzung von Radioaktivität in die Kraftwerksumgebung. Der Sachschaden war natürlich erheblich.

Nach Tschernobyl kam der Mensch als Risikofaktor verstärkt ins Bewusstsein. Dieser größte Störfall der Nutzungsgeschichte von ziviler Kerntechnik wurde nicht durch technisches Versagen ausgelöst, allein die Fehlbedienung durch Menschen war die Ursache. Wir haben gelernt, dass es eine Sicherheitskultur braucht, um kritische Technologien sicher betreiben zu können. Das System muss auf unabhängige Genehmigungsbehörden wie etwa dem TÜV in Deutschland aufgebaut sein. Der Betrieb einer solchen kritischen Technologie ist nicht allein ein wissenschaftlich-technisches Problem, sondern es sind Mechanismen auf gesellschaftlicher Ebene erforderlich, mit den sich widersprechenden wirtschaftlichen und politischen Interessen umzugehen. 

Die Frage, wie eine Gesellschaft mit technologischem Fortschritt und damit einhergehenden Risiken und Krisen umgeht, hat mich schon immer beschäftigt. Die Katastrophe in Tschernobyl war sicher neben vielen anderen auch ein Anlass für den Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland. Auch heute noch arbeite ich an Themen der Reaktorsicherheit, allerdings sehr grundlagenorientiert. In der Abteilung „Computational Fluid Dynamics“ am Institut für Fluiddynamik des HZDR stehen Strömungen aus mehreren Phasen, also zum Beispiel aus einem Gas und einer Flüssigkeit, im Mittelpunkt. Solche Mehrphasenströmungen kommen im Primärkreislauf von Druckwasserreaktoren ebenso vor wie in Chemiereaktoren. Sie sind äußerst komplex und werden uns Wissenschaftler noch viele Jahrzehnte beschäftigen. 

Am 26. April jährt sich die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zum 30. Mal. Der Bericht ist Teil einer Serie, in der Helmholtz-Forscher erzählen, wie sie die Tage und Wochen nach dem Unglück erlebten und wie sich ihre wissenschaftlichen Karrieren durch den Unfall verändert haben. Weitere Beiträge finden Sie hier: www.helmholtz.de/tschernobyl

In der Kurzfolge unseres Forschungspodcast beschreibt Christoph Pistner vom Öko-Institut wie es vor 30 Jahren im Reaktor von Tschernobyl zum Super-GAU kommen konnte. In der Langfolge erklärt er, wie ein Atomkraftwerk funktioniert, welche Reaktortypen es gibt und was mit dem Atommüll geschehen sollte.

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