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Interview

„Der Leidensdruck ist enorm“

Bild: Shutterstock

Experten schätzen, dass bis zu 70 Prozent der COVID-19-Patienten unter Geruchs- und Geschmacksstörungen leiden. Wir sprachen mit Kathrin Ohla vom Forschungszentrum Jülich über ein unterschätztes Symptom.

Kathrin Ohla leitet die Arbeitsgruppe „Kognitive Neurophysiologie“ am Institut für Neurowissenschaften und Medizin des Forschungszentrums Jülich. Die Psychologin gehört zur Lenkungsgruppe des Globalen Konsortiums für Chemosensorische Forschung (GCCR).

Wir haben Anfang Juli schon mal ein Gespräch über Ihre Studien zu Riech- und Schmeckstörungen bei COVID-19 geführt. Dieses Interview haben seitdem zahlreiche Betroffene kommentiert, Tenor: „Endlich finde ich etwas über meine Symptome!“ Daraus ist fast schon eine Art Selbsthilfegruppe entstanden. Was sagen Sie zu den Reaktionen?

Sie zeigen, wie enorm groß der Leidensdruck ist. Und ich freue mich, dass wir so vielen den Rücken stärken konnten, die jetzt wissen: „Ich bilde mir das nicht ein.“

Es wird des Öfteren erwähnt, dass manche Haus- und HNO-Ärzte Patienten – vor allem, wenn sie unter Fehlgerüchen leiden – abspeisen mit: „Sie bilden sich das ein!“

Ich finde das nicht mehr nachvollziehbar. Viele Kollegen haben, genau wie ich selbst, erfolgreich dafür gekämpft, dass das National Institute of Health (USA) Geruchs- und Geschmacksverlust als COVID-19-Symptom mit aufnimmt. Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO hat das schon vor einer ganzen Weile getan. Die Datenlage könnte nicht viel klarer sein: Es gibt die ersten Meta-Analysen, die zeigen, dass sieben von zehn Corona-Patienten – also 70 Prozent – zumindest zeitweilig davon betroffen sind.

Die 70 Prozent beziehen sich aber nur auf Infizierte, die auch weitere Symptome zeigen?

Die Prävalenz – also die Häufigkeit einer Erkrankung – lässt sich nur mit einer Zufallsstichprobe bestimmen. Unsere Online-Umfrage zieht dagegen zwangsläufig die Leute an, die Probleme mit dem Riechen und Schmecken haben. In einer aktuellen Studie hat man sich 34 Publikationen angeschaut, wo Stichproben von 15 bis zu 7.178 COVID-19-Patienten dabei waren. Die gemittelte Prävalenz von Geruchsverlust lag in diesen Studien bei 50 Prozent, wenn man die Patienten befragte und bei 77 Prozent, wenn man sie mit einem objektiven Test untersuchte. Damit kommen wir der Prävalenz vermutlich sehr nahe. Man muss immer auch bedenken: Die wirklich schweren Verläufe werden nicht auch noch auf Geruchsverlust diagnostiziert. Da hat man ganz andere Probleme als noch einen Riechtest zu machen.

Wenn ich die Leidensgeschichten in den Kommentaren unter unserem ersten Interview lese, habe ich den Eindruck, das ist noch die mildere Variante im Vergleich zur Parosmie. Was Betroffene da berichten von übelsten Gerüchen, die sie plötzlich wahrnehmen – da riecht man doch lieber nichts.

Das klingt hart, ist aber so. Denn Parosmie bedeutet genau das: Dinge riechen plötzlich anders. Üblicherweise geht sie nicht mit angenehmen Gerüchen einher. Es sind eigentlich immer Berichte von üblen Gerüchen: Fäkalien, Ausguss, Verbranntes.

Warum hat die Natur das so eingerichtet? Ist das ein Warnmechanismus?

Kathrin Ohla leitet die Arbeitsgruppe "Kognitive Neurophysiologie" am Institut für Neurowissenschaften und Medizin des Forschungszentrums Jülich. Die Psychologin gehört zur Lenkungsgruppe des Globalen Konsortiums für Chemosensorische Forschung (GCCR). Bild: Forschungszentrum Jülich

Das ist eine interessante Frage. Erst das Zusammenspiel verschiedener Duftmoleküle macht etwa den typischen Bananengeruch aus. Häufig ist es so, dass Duftmoleküle verschiedene Geruchsrezeptoren in unserer Nase aktivieren können. Das Muster an Aktivierungen, das dabei entsteht, wird dann vom Gehirn interpretiert als: „Das ist Bananengeruch.“ Stellen Sie sich nun vor, in diesem Musterteppich von Nervenzellen fällt jede dritte aus, dann ist das Ergebnis nicht mehr „Banane“. Das Signal ans Gehirn ist plötzlich ein ganz anderes. Meine Hypothese ist daher, dass Parosmien schlichtweg Fehlfunktionen und keine Warnmechanismen sind.  

Wissen Sie seit unserem ersten Gespräch mehr über die Zeitspannen, wann sich der Geruchssinn wieder normalisiert?

In unseren Studien haben wir gezielt nach Teilnehmern gesucht, die akut krank sind oder in den letzten 14 Tagen krank waren. Über einen längeren Zeitraum können wir also nur bedingt etwas sagen. In der Gruppe der Genesenen lagen etwa in der Hälfte der Fälle noch Geruchs- und Geschmacksstörungen vor. Wir befürchten: Wer nach 30 Tagen noch nicht gesund ist, bei dem bleiben die Einschränkungen wahrscheinlich länger. Zudem haben wir eine Stichprobe unserer Teilnehmer nach ein paar Monaten erneut befragt, wie sich die Symptome entwickelt haben. Damit haben wir vor einem Monat begonnen, ein paar tausend Antworten haben wir schon. Davon und von weiteren parallelen Untersuchungen erhoffen wir uns konkretere Aussagen.

Sind darunter auch COVID-19-Patienten, die im März krank waren und immer noch nicht riechen können?

Ja. Es ist nun wichtig abzuschätzen, ob das wenige extreme Ausnahmen sind. Aber wenn auch nur ein Prozent von Millionen Erkrankten dauerhaft den Geruchssinn verliert, sind das natürlich sehr viele Fälle, die weiterbehandelt werden müssen.

Viele berichten von Schwankungen: Erst verbesserten sich Geruchs- und Geschmackssinn wieder, dann verschlechterten sie sich erneut. Ist das typisch?

Ich finde es eher überraschend. Ich bin jetzt aber auch keine Medizinerin, die sich auf diesen Bereich spezialisiert hat. Man muss auch bedenken: Fällt der Geruch aus, führt das zu einem enormen Stress, sich sehr genau zu beobachten. Um das ein wenig zu objektivieren, haben wir den Riechcheck herausgebracht, wo jeder an Dingen im eigenen Haushalt riechen und diesen Eindruck bewerten kann. Wir wollen damit einen regelmäßigen Reiz geben, um zu messen: Wie verändert sich das wirklich? Hier haben wir jetzt auch schon mehr als 7.000 Teilnehmer. Da bereiten wir die ersten Analysen vor.

Sie erwähnten, dass Ärzte mit Tests bestätigen können: „Dieser Mensch hat einen Geruchsverlust.“ Aber das merke ich doch selber. Wo liegt der Mehrwert?

Nicht jeder HNO-Arzt hat diese Tests zur Verfügung. In der Regel geht man in eine spezialisierte Riech- und Schmeckklinik, wie es sie beispielsweise in Dresden gibt. Den Patienten werden verschiedene Duftkonzentrationen in einer Reihenfolge dargeboten, die sie nicht kennen. So lässt sich herausfinden, wie empfindlich der Patient ist. Diese Tests sind normiert, d.h. man hat viele Daten darüber, wie dieses Alter, dieses Geschlecht abschneiden sollte. Und dann schaut man, wie sehr der Patient davon abweicht.

Lässt sich auch auf eine Parosmie testen?

Ja, beispielsweise mit einem Riech-Identifikationstest: Der Patient bekommt einen deutlich riechbaren Duft und muss sagen, wonach das riecht. Sagt er etwas völlig Anderes, ist das ein Hinweis darauf, dass eine Parosmie vorliegt. Dem einen oder anderen Patient hilft es, wenn ihm ein Arzt sagt: „Wir haben das Testergebnis, es verhält sich genau so, wie Sie es sagen.“

Aber was macht man dann? Kann man nur auf den Faktor Zeit bauen? Darauf, dass sich die Zellen wieder erneuern?

Es ist aus medizinischer Sicht eine schreckliche Aussage. Aber „Haben Sie Geduld!“ ist ein Satz, der sehr häufig verwendet wird. Es gibt kein Wundermedikament. Aber es gibt Studien, die darauf hinweisen, dass Riechtraining helfen könnte. Jetzt muss untersucht werden, ob das auch bei COVID-19-bedingten Riechstörungen hilft. Man kann also derzeit nicht mehr tun, als Hoffnung zu geben.

Und weiter zu forschen?

Ja, es braucht mehr klinische Studien, um zu schauen: Wie sieht es prospektiv aus? Das Problem ist: Die Kliniken, die die Patienten versorgen und testen, müssen auch das Interesse haben, sie noch später erneut einzubestellen und zu untersuchen. Und es werden uns immer die Werte aus der Zeit vor der Erkrankung fehlen. Es bleibt spannend. Zumindest wird jetzt endlich die große Bedeutung des Riechens und Schmeckens deutlicher, die viele Ärzte verglichen mit Sehen und Hören als nebensächlich abgetan hatten.

Erstmals sprachen wir mit Kathrin Ohla im Juli über das Thema Geruchs- und Geschmacksstörungen bei COVID-19. Zum ersten Teil des Interviews.

Online-Umfrage des Globalen Konsortiums für Chemosensorische Forschung (GCCR)

Die Umfrage des GCCR ist seit dem 7. April 2020 und in 32 Sprachen online. Teilnehmen können alle Erwachsenen, die aktuell oder in den letzten zwei Wochen unter einer Atemwegserkrankung wie COVID-19, Grippe oder Erkältung leiden oder gelitten haben. Der Fragebogen erfasst den Geruchssinn, den Geschmackssinn und den Sinn für bestimmte Empfindungen im Mund. Dazu zählen Brennen, Kälte oder Prickeln etwa beim Kontakt mit Chili, Pfefferminzbonbons oder Kohlensäure. Diesen dritten Sinn nennen die GCCR-Experten Irritation. Die Teilnehmer sollen auf einer Skala zwischen 0 und 100 angeben, wie gut sie ihre Wahrnehmungen mit dem jeweiligen Sinn vor und während der Erkrankung beurteilen.

Die über 500 Mitglieder des GCCR wollen die globale Zusammenarbeit in der Erforschung der chemischen Sinne Geruch und Geschmack fördern – in Abstimmung mit lokalen Labors, Wissenschaftlern und Kliniken.

Link zur Teilnahme:https://gcchemosensr.org/surveys/

Außerdem haben Kathrin Ohla und ihr Team einen Geruchs- und Geschmackstest für jedermann entwickelt. Damit können alle Interessierten ihr Riech- und Schmeckvermögen kontinuierlich zu Hause messen:www.riech-check.de

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