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Fokus@Helmholtz

Der freie Wille – nur eine Illusion?

Die Diskutanten auf dem Podium: Von links nach rechts: Reinhard Merkel, Manuela Lenzen, Janine Tychsen, Markus Diesmann, Onur Güntürkün

Hirnforscher, Philosophen und Computerexperten sind auf der Suche nach dem Kern des Ichs. Wer oder was lenkt unser Denken und Handeln? Wir selbst, unser freie Wille? Oder bestimmen komplexe chemische Prozesse in unserem Gehirn unser Verhalten und Denken? In Berlin suchten Wissenschaftler nach Antworten

Podiumsdiskussion: Prof. Dr. Markus Diesmann, Forschungszentrum Jülich; Dr. Manuela Lenzen, Wissenschaftsjournalistin; Prof. Dr. Onur Güntürkün, Ruhr-Universität-Bochum; Prof. Dr. Reinhard Merkel, Universität Hamburg. Moderation: Janine Tychsen, Helmholtz-Gemeinschaft

Wer oder was dirigiert unser Denken und Handeln? Ist es der freie Wille, der darüber entscheidet, ob wir morgens aufstehen oder ob wir uns noch einmal zur Seite drehen? Oder ist es ein  neurobiologisches Zusammenspiel in unserem Gehirn, das unser Verhalten steuert? Die Fragen, die diesmal in der Diskussionsreihe „Fokus@Helmholtz“ vermessen wurden, sind Dauerbrenner der wissenschaftlichen Debatte – spätestens seit die Hirnforschung dem philosophischen Konstrukt vom autonomen Ich zunehmend misstraut. Es sind zugleich Fragen, die auch Menschen jenseits der akademischen Gesellschaft umtreiben. Denn sie berühren die Grundmauern unserer Existenz.

Es war eine interdisziplinäre Runde an der Schnittstelle zwischen Natur-, Geistes- und Rechtswissenschaft, die den kontroversen Stoff erörterte. Gleich zu Beginn äußerte Reinhard Merkel, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg und Mitglied in der Leopoldina, seine Zweifel an der Idee eines freien Willens. Er betrachtete unser Gehirn stattdessen als „ein physikalisches System, das Naturgesetzen folgt“. Dieser Determinismus, also die Vorbestimmung von Ereignissen und Handlungen, bedeute aber keineswegs, dass Menschen fortan keine Verantwortung mehr für ihr Handeln tragen. Jeder Mensch sei „normativ ansprechbar“ und somit in der Lage, die Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens zu befolgen. Straftäter sind also schuldfähig – auch wenn biochemische Prozesse im Gehirn die Triebfedern für ihr Handeln waren.
   
Angesichts solcher Volten gab Onur Güntürkün, Professor für Biopsychologie an der Ruhr-Universität und ebenso Mitglied in der Leopoldina, den Skeptiker. „Woher weiß die Wissenschaft, dass unser Handeln vorbestimmt ist?“, fragte er und richtete den Blick auf die vielen noch ungelösten Rätsel der Hirnforschung. Da ist zum Beispiel die Ungewissheit, ob im Spiel der Neuronen nicht auch Zufälle eine Rolle spielen. Markus Diesmann, Leiter des Instituts für Neurowissenschaften und Medizin am zum Helmholtz gehörenden Forschungszentrum Jülich, sprach in diesem Zusammenhang von einem „deterministischen Chaos“. Damit ist ein System gemeint, das zwar inneren Gesetzen folgt, dessen Verhalten aber nicht genau vorherzusagen ist. Der Grund sind kleine Störungen im System, die unerwartete Veränderungen auslösen können. Seine Befunde liest Diesmann dem mathematischen Modell ab, mit dem er ein Kubikmillimeter Hirngewebe nachgebaut hat, dem Umfang nach etwa 100.000 Nervenzellen. Die Simulation bildet allerdings nur einen klitzekleinen Teil der an die 100 Milliarden Nervenzellen ab, aus denen sich das menschliche Gehirn zusammensetzt. Solche Größenverhältnisse zeigen, wie schwierig es für Hirnforscher ist, ihre Thesen zu belegen.

Die Wissenschaftsjournalistin Manuela Lenzen, die ebenfalls auf dem Podium saß, wundert es nicht, dass die Frage nach den Bedingungen unseres Denkens viele Menschen interessiert. Diese Frage sei „zentral für unser Selbstverständnis. Wir sind gezwungen, dazu eine Meinung zu haben“. Dabei solle man auch nicht vergessen, wie groß der Einfluss der kulturellen Umgebung auf unser Gehirn sei – ein Phänomen, das am Ende der Biopsychologe Güntürkün aufs Tableau hob. Die Art der Gesellschaft, egal ob individualistisch wie im Westen oder kollektivistisch wie im fernen Osten, habe Auswirkungen auf kognitive Prozesse. Auch in der Hirnforschung bleibt der Mensch also ein soziales Wesen.


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