Direkt zum Seiteninhalt springen

Schulen

Das forschende Klassenzimmer

Schülerexperimente sind eine feine Sache – wenn der Rahmen stimmt. Bild: Peter Hirth/laif

Naturwissenschaftliche Experimente sind Standard an jeder Schule. Aber unter welchen Bedingungen wird eigentlich experimentiert? Was lernen die Schüler wirklich daraus? Und wie könnte man es besser machen?

Gebannt starrt der zwölfjährige Rudi auf das vor ihm schwingende Pendel. Knacksend meldet ein Zähler, wenn der an Nylonfäden befestigte Eisenkörper wieder einmal die Lichtschranke passiert: tack – tack – tack.

Ansonsten ist es mucksmäuschenstill im Physikraum. Alle sind ganz bei der Sache. Gemeinsam mit seiner Lehrerin und einigen Klassenkameraden hat Rudi die Versuchsanordnung aufgebaut. Als nächstes soll ein Stück Aluminium in die Pendel­apparatur eingespannt werden. Wird das Leichtmetall weniger lang für eine Schwingung benötigen als das schwere Eisen? Fast alle Siebtklässler sind felsenfest davon überzeugt. Die Lehrerin muss schmunzeln; bald wird der Energieerhaltungssatz für Staunen sorgen …

Kein Zweifel, Experimente im Schulunterricht können eine Menge Spaß bringen – nützlichen Spaß. Experimente machen die Beschaffenheit der Natur, im Wortsinn, begreiflich. Ihre klaren Durchführungsregeln vermitteln zudem eine Ahnung von der Logik wissenschaftlichen Erkennens. Längst ist dies bildungspolitischer Konsens. Die grundlegende „Empfehlung der Kultusministerkonferenz zur Stärkung der mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Bildung“ vom Mai 2009 legt ebenso großen Wert auf das lernende Handanlegen wie beispielsweise die jüngste Initiative von Kultusministerkonferenz und Deutschem Industrie- und Handelskammertag zur „Stärkung der Praxis im Unterricht“. In unseren Schullaboren, so möchte man meinen, könnte jeden Tag eine MINT-Laufbahn beginnen.

Was in Rahmenvereinbarungen und Publi­kumskampagnen gut klingt, sieht in den Klassenräumen aber oftmals ganz anders aus. „Mit Fachräumen und Geräten sind wir gut ausgestattet, auch an spannenden Experimentieranleitungen mangelt es nicht“, berichtet Helga Fenz, Fachbereichsleiterin Naturwissenschaften an der Berliner Robert-Havemann-Oberschule. „Was fehlt, ist Zeit.“ In Berlin seien in den Klassen 7 und 8 für sämtliche Naturwissenschaften gerade mal vier Wochenstunden vorgesehen – da komme das Experimentieren zwangsläufig zu kurz. Wenig hilfreich seien auch die wachsenden Klassenstärken: „Inmitten von 32 Schülern mit einem Gasbrenner zu arbeiten, erfordert schon besondere Konzen­tration.“

„Erfahrenheit durch den Trieb, allerlei zu versuchen“: Schon in J.B. Basedows Elementarwerk von 1774 ist das Experiment ein Bildungsgut. Bild: Kupfertafel von D. Chodowiecki

Regelmäßig zieht es Helga Fenz und ihre Schützlinge ins Gläserne Labor des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin (MDC), einem Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft. Die Robert-Havemann-Oberschule ist Partnerschule des MDC, die dortigen Schülerseminare bilden eine feste Ergänzung zum Unterricht. „In echten Laboren zu hantieren und von richtigen Wissenschaftlern angeleitet zu werden, kommt bei den Jugendlichen sehr gut an“, sagt Helga Fenz.
Fortbildungsangebote für Lehrer bietet das angeschlossene MDC-Programm „Labor trifft Lehrer“. Koordinatorin Luiza Bengtsson erklärt: „Mit dem Einbezug in reale Forschungsprojekte, etwa der Stammzellforschung, möchten wir auch das schulische Experimentieren stärken.“

Wie viel Experimentieren muss sein? Wie soll es bewertet werden? Und welche Art von Experimenten ist überhaupt sinnvoll? Die Debatte darüber ist im vollen Gange. So kommt Martin Schwichow vom Kieler Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik zu dem Schluss: Schüler lernten derzeit „mehr durch Berichte über Experimente als durch selbstständig durchgeführte Experimente“. Die so genannten Kochbuchexperimente zur Veranschaulichung von Lehrsätzen greifen seiner Meinung nach viel zu kurz. Das scheint kein deutsches Phänomen zu sein: Auch der im amerikanischen Stanford lehrende Wissenschaftsdidaktiker Jonathan Osborne stellte kürzlich in einem Zeitungsartikel fest, die landläufige Art des schulischen Experimentierens sei zu sehr auf Ergebnisse fixiert. Stattdessen solle es wieder mehr darum gehen, wie experimentelle Daten eigentlich zustande kommen und wie man sie interpretieren könne.

„Experimente müssen Kinder an Hand und Kopf mitnehmen“

In Großbritannien fand die nationale Prüfungs­behörde Ofqual im vergangenen Jahr heraus, dass bei Schulexperimenten selten individuell angemessen benotet wird. Als Ofqual daraufhin für eine Abkoppelung der Experimentnoten von den Abiturnoten plädierte, war der mediale Aufschrei laut. Britische Wissenschaftsorganisationen und Wirtschaftsverbände sorgten sich, das Erlernen manuellen Knowhows könnte damit unwichtiger werden – eben weil es für die Abschlussnote keine Rolle mehr spielen würde.

Mittlerweile hat sich die Behörde durchgesetzt: Wohl ab 2017 werden britische Schulabgänger neben ihrem „A-level“-Zeugnis eine Bescheinigung über die erfolgreiche Durchführung von zwölf Basisversuchen erhalten. Wie Anne Schirrmacher vom Deutschen Lehrerverband anmerkt, liegen die Briten damit auf einer Linie mit den Anforderungen der international anerkanntesten Hochschulzugangsberechtigung „International Baccalaureate“.

Eine ähnlich drastische Neuausrichtung steht hierzulande nicht an. „Grundsätzlich ist es so, dass die experimentelle Tätigkeit eines Schülers in seine mündliche Note einfließen soll und kann“, sagt David Di Fuccia, der an der Universität Kassel Didaktik der Chemie lehrt. „Inwieweit dies überall stattfindet, ist schwer zu sagen.“ Deutlich genauere Vorgaben gibt es für das Abitur: Hier fordern die bundeseinheitlichen Prüfungsanforderungen für die MINT-Fächer die selbstständige Planung, Durchführung, Beobachtung, Beschreibung und Auswertung von Experimenten.

Wie aber kann bei all dem sichergestellt werden, dass Kinder und Jugendliche bleibend etwas aus ihrer Laborarbeit lernen? Experten wie Martin Schwichow und Jonathan Osborne fordern dafür eine „hands-on-minds-on“-Philosophie. „Experimente müssen Kinder sozusagen an Hand und Kopf mitnehmen“, sagt Martin Schwichow. „Sie brauchen Bezüge zum Alltag und zu aktuellen Forschungsthemen, ihr Ausgang muss offen bleiben. Wichtig ist auch, den Experimentierenden zu zeigen, welche Konsequenzen ihre Befunde haben und dass ihr kontrolliertes Vorgehen eine auch im Alltag hilfreiche Denkstrategie ist.“ Nun bleibt zu verfolgen, wie das Pendel der Debatte weiter ausschlagen wird.

Experimentieren im Schülerlabor

Außerhalb der Schule können Jugendliche deutschlandweit in über 300 Schülerlaboren verschiedenster Einrichtungen experimentieren. Die Helmholtz-Gemeinschaft unterhält 30 Labore, in denen Schülerinnen und Schüler zu Themen wie Meereskunde, Molekularbiologie oder Teilchenphysik selbst aktiv werden können. Jährlich besuchen rund 65.000 Jugendliche die Labore, außerdem Vorlesungen, Forschungspraktika, Ferienkurse und Berufsinformationstage. Fort­bildungen für Lehrer komplettieren das Angebot.
Auch Museen bieten Experimentierkurse für Schulklassen an, so zum Beispiel in Berlin das Naturkundemuseum oder das Deutsche Technikmuseum mit seinem kürzlich eröffneten Schülerlabor „Meilensteine“, in dem man sich auf die Spuren bekannter Forscherpersönlichkeiten begeben kann.

Netzwerk Schülerlabore der Helmholtz-Gemeinschaft

Leser:innenkommentare