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Teilchenphysik

Im Kern vom CERN

Spielplatz für Elementarteilchen: Der ALICE-Detektor soll den Zustand der Materie unmittelbar nach dem Urknall nachstellen. Bild: CERN / Antonio Saba

Im Juli 2012 gelang Wissenschaftlern am CERN der Nachweis des Higgs-Teilchens, für dessen theoretische Vorhersage Peter Higgs und François Englert dieses Jahr den Nobelpreis erhielten. Ein seltener Blick hinter die Kulissen des weltweit führenden Forschungszentrums auf dem Gebiet der Teilchenphysik

Zu den heiligen Hallen der Teilchenphysiker führt ein unscheinbarer Aufzug: Wer hier einsteigt, der fährt 100 Meter in die Tiefe - dorthin, wo die 27 Kilometer lange Röhre verläuft, die die Forscher für ihre Experimente nutzen. Im laufenden Betrieb sind die High-Tech-Tunnel tief unter dem schweizerischen Kanton Genf nicht zugänglich. Derzeit aber ist Betriebspause, im CERN ein seltenes Ereignis. Und die einmalige Chance, bis zum Zentrum des Geschehens vorzudringen.

Ein Shuttle-Bus bringt die Besucher von der Rezeption zu dem Gebäude, in dem die Zugänge zu den unterirdischen Katakomben liegen: Schwere Lastenkräne und schnelle Personenaufzüge führen tief unter die Erde. Die Sicherheitsprüfungen sind streng: Den Zugang zum Herzen des Forschungszentrums reguliert eine vollelektronische Schleuse, die stets nur einen Besucher auf einmal passieren lässt. Mitarbeiter erkennt das Gerät über einen Iris-Scan. "Es bringt allerdings nichts, wenn sie mir ein Auge ausreißen", sagt Christoph Rembser, einer der Forscher am CERN: "Der Scanner prüft auch, ob das Auge noch lebt."

Unten in der gewaltigen Röhre ist das Reich der Forscher. Mehr als 2.400 Mitarbeiter sind am CERN beschäftigt, hinzu kommen zahlreiche Gastwissenschaftler. Nirgendwo sonst auf der Welt stehen Physikern solche experimentellen Möglichkeiten zur Verfügung: Die Forscher schicken zwei gegenläufige Protonenstrahlen durch den 27 Kilometer langen Tunnel, um sie miteinander kollidieren zu lassen und dabei neue, exotische Teilchen zu erzeugen. Extrem starke Magneten halten die Teilchen im Innern der beiden dünnen Strahlrohre auf Bahn. Die Protonen kreisen in Paketen, jedes sieben Zentimeter lang, aber haarfein gebündelt. Im Abstand von jeweils sieben Metern kommen diese Pakete mit beinahe Lichtgeschwindigkeit vorbei. An vier Kreuzungspunkten treffen die Protonenstrahlen aufeinander. Dort stehen vier haushohe Detektoren in riesigen Kavernen. Sie sind bis an den Rand mit Messinstrumenten und Elektronik gefüllt, um die Bahnen der vielen bei einer Kollision entstehenden Teilchen aufzuzeichnen. Die Kunst der Teilchenphysiker besteht dann darin, aus unzähligen Ereignissen die wenigen entscheidenden herauszufiltern.

In Stahlrohren lassen Forscher Protonen mit großer Wucht aufeinander prallen. Bild: CERN / Maximilian Brice

Die Detektoren sind schwerer als der Eiffelturm

Für den Nachweis der exotischen Teilchen haben sich Physiker aus aller Welt zu Kooperationen zusammengeschlossen, die jeweils einen der vier großen Detektoren am LHC betreiben. Diese riesigen Geräte, die zwanzig bis fünfzig Meter lang sind, sind teilweise schwerer als der Eiffelturm. Dies liegt an den großen Mengen Eisen für das Magnetsystem. Die magnetischen Felder sollen die hochenergetischen Teilchen ablenken, um daraus ihre Masse und ihren Typ bestimmen zu können.

Zwei der Detektoren, ATLAS und CMS, sind Universalisten. Sie sind nicht nur dafür gebaut, nach dem Higgs-Teilchen zu suchen, das aller Materie Masse verleiht, sondern sie sind gewissermaßen Allround-Talente. Über das Deutsche Elektronen-Synchrotron DESY ist die Helmholtz-Gemeinschaft an beiden Experimenten beteiligt. Dann gibt es noch ALICE, der nach extrem dichten Atomkernzuständen suchen soll, wie sie kurz nach dem Urknall vorgelegen haben. Auch hier sind Helmholtz-Wissenschaftler über die GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung GmbH involviert. Der letzte der Detektoren, LHCb, soll die Unterschiede zwischen Materie und Antimaterie erforschen.

Die Magneten sind extrem kalt. Sollten sie sich erwärmen, kann das geschehen, was zur bislang größten Panne des neuen Teilchenbeschleunigers geführt hat: Im September 2008, kurz nach der Inbetriebnahme des LHC, kam es zu einem so genannten Quench. Die Verbindungsstücke zwischen den Magneten erwärmten sich durch Materialfehler plötzlich, wodurch ihr elektrischer Widerstand stieg und sie sich weiter erhitzten, bis sich schließlich die gesamte magnetische Energie in Wärme verwandelte. Dies führte zu schweren Schäden in einer von acht Sektionen des Teilchenbeschleunigers. Die Techniker brauchten ein Jahr, um alles so weit zu reparieren, dass der Betrieb wieder aufgenommen werden konnte.

Sicherheitshalber entschieden die Wissenschaftler am CERN deshalb, zunächst bei halber Energie weiter zu machen und erst bei der jetzigen Betriebspause die rund zehntausend Verbindungen zwischen den Magneten durch neue Modelle zu ersetzen. Ab 2015 soll der Beschleuniger dann mit der vollen Energie von 14 Teraelektronenvolt wieder in Betrieb gehen.

Aber auch die halbe Energie war ausreichend, um das Higgs zu entdecken. "Damit konnten wir nach fünfzig Jahren endlich den Baukasten der Teilchenphysik komplettieren", sagt CERN-Generaldirektor Rolf Heuer. Das Higgs-Teilchen zu finden war so wichtig, um die letzte Lücke im Standardmodell der Teilchenphysik zu schließen. Diese Theorie beschreibt die elementaren Teilchen der Materie und die Kräfte, die sie zusammenhalten. Aber nur das Higgs-Teilchen verleiht ihnen eine Ruhemasse, ohne die keine stabile Materie existieren könnte.

Ursprung der Masse, Herkunft der Materie und ihr Zustand kurz nach ihrer Entstehung: Wer solche Urfragen der Menschheit angehen will, muss sich durch ungeheure Datenmengen wühlen. Die vier Großgeräte verarbeiten so viele Informationen, wie sie entstünden, wenn jeder Erdenbürger gleichzeitig mehrere Dutzend Telefonate führte. Spezielle Filter reduzieren diesen Datenwust, der im Rechenzentrum des CERN gespeichert und Forschern weltweit zur Verfügung gestellt wird. Helmholtz-Forscher vom Karlsruher Institut für Technologie unterstützen hier die zahlreichen Wissenschaftler bei der Datenanalyse.

Aber wohin geht die Reise nun, da mit dem Higgs der letzte Baustein des Standardmodells nachgewiesen ist? "Wir wissen noch nicht, ob das gefundene Higgs genau die Eigenschaften trägt, die das Standardmodell vorhersagt", erklärt Theoretiker Robert Harlander den Fokus der kommenden Untersuchungen. Manche Theorien erwarten ein Higgs-Teilchen, das ebenfalls zum jetzigen Fund passen, sich in Details jedoch unterscheiden würde. Andere Theorien gehen von mehreren Higgs-Teilchen aus oder von anderen, noch unbekannten Partikeln, die sich mit dem auf volle Energie umgerüsteten Beschleuniger erzeugen lassen sollten. Vielleicht werden auch erst neue Beschleuniger Aufschluss bringen. Weltweit arbeiten Teilchenphysiker bereits an neuen Konzepten für künftige Großgeräte, die mit höherer Präzision laufen sollen. Das ist aber Zukunftsmusik. Bis dahin wird das CERN mit seinem riesigen unterirdischen Tunnel der wichtigste Anlaufpunkt für die Teilchenphysiker aus aller Welt bleiben.

www.weltmaschine.de - Website über den LHC, das CERN, die Rätsel des Universums und der modernen Physik

Fakten zu LHC - Auf dieser Website können Sie den Betreib des LHC live mitverfolgen

Experimente am CERN - Website zu den Experimenten am CERN

Google Street View: Rundgang durch den Beschleunigertunnel

Video: Nobelpreis-Verkündung am CERN

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