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Teilchenbeschleuniger

Das Higgs-Teilchen war nur der Anfang

Kerstin Tackmann vor einem Foto des ATLAS-Detektors. © DESY 2013

Nach zwei Jahren Pause rasen wieder Protonen durch den weltweit größten Teilchenbeschleunigerring am CERN in Genf. Die Physikerin Kerstin Tackmann war an den Vorbereitungen beteiligt.

Die Teilchenphysik hat wohl noch nie so viel Aufmerksamkeit erregt wie am 4. Juli 2012. Die Sensation war perfekt: Das CERN in Genf gab bekannt, dass ein Teilchen nachgewiesen wurde, von dem die Forscher mit gutem Grund annehmen durften, dass es sich um das seit fast 50 Jahren postulierte Higgs-Boson handelt. Damit wäre das Standardmodell der Teilchenphysik komplett. Allerdings lassen sich mit dem Modell nur etwa fünf Prozent unseres Universums beschreiben: Sterne, Planeten, wir Menschen, Tiere und Pflanzen - also all das, was wir sehen. Der gewaltige unsichtbare Rest bleibt rätselhaft.

Deshalb ging für Physiker wie Kerstin Tackmann die Arbeit danach erst richtig los. In den letzten Wochen hatten sie und ihre Kollegen am CERN kaum Zeit zum Luft holen. So beschreibt die 36-Jährige die Stimmung, denn Anfang April fuhr der LHC, der weltweit größte Teilchenbeschleunigerring am CERN, nach zweijähriger Pause wieder hoch. Die Teilchen sollen nun mit fast der doppelten Energie aufeinander prallen. Die Vorfreude ist der Wissenschaftlerin anzumerken: "Wir werden in den nächsten Jahren sehr präzise Messungen machen können, denn wir werden deutlich größere Datenmengen haben als je zuvor." Doch das will vorbereitet sein: die Detektoren müssen neu kalibriert, die Software angepasst, die Datenanalysen durchdacht und abgestimmt werden.

ATLAS, einer der Teilchendetektoren des Large Hadron Collider (LHC), CERN. Bild: CERN/ Maximilien Brice

Alle bisherigen Messungen zum Higgs-Boson, sagt die Forscherin, stimmten mit dem Standardmodell überein. Doch die Unsicherheiten seien groß. "Wir haben noch sehr, sehr viel zu tun am Higgs-Boson selbst." Wie wechselwirkt es mit anderen Teilchen? Wie zerfällt es und in welche anderen Teilchen? Gibt es noch weitere Higgs-Bosonen oder ganz andere, bisher unbekannte Teilchen? Es könnte durchaus komplizierter sein.

Seit 2008 ist Kerstin Tackmann eine von über 3.000 Wissenschaftlern und Ingenieuren, die am ATLAS-Experiment arbeiten. ATLAS ist einer der vier großen Detektoren am LHC. Seit 2011 leitet Tackmann eine Helmholtz-Nachwuchsgruppe bei DESY in Hamburg. Sie genießt das Internationale, das Kollaborative, das Generationen Übergreifende sowohl am CERN, als auch bei DESY. Die Fahrten zwischen Hamburg und Genf sind der Takt ihres Lebens.

Wenn Tackmann ihre Forschung erklärt, ist sie in ihrem Element. Sie berichtet von den verschiedenen Zerfallsprodukten, die aus einem Higgs-Boson entstehen können, unter anderem in zwei energiereiche Lichtteilchen, Photonen genannt. Diese Photonen sind Tackmanns Forschungsobjekt.

In dem gesamten Datensatz, der während des letzten Messzyklus am ATLAS Experiment genommen wurde, haben die Forscher knapp 500 Ereignisse entdeckt, bei denen zwei Photonen aus Higgs-Bosonen-Zerfällen mit der passenden Energie entstanden sind. Die meisten Ereignisse allerdings sind auf andere Wechselwirkungen zurückzuführen. Tackmann und ihre Kollegen in der ATLAS-Kollaboration haben Methoden und Algorithmen entwickelt und immer wieder optimiert, um das Higgs-Boson über den Photonenzerfall nachzuweisen. Mit ihrem Ansatz können die Daten stabil ausgewertet werden, egal wie viele Teilchen gleichzeitig kollidieren und Zerfallsprodukte hervorbringen. Drei bedeutende Preise hat die Wissenschaftlerin für ihre Arbeit erhalten, etwa den Hertha-Sponer-Preis der Deutschen Physikalischen Gesellschaft.

Das Pathetische liegt Kerstin Tackmann nicht. Wenn man sie nach ihrem Antrieb fragt, wird man kein Zitat aus Goethes Faust hören. Schon früh in ihrem Studium habe sie sich für die Teilchenphysik interessiert, sagt sie, es habe ihr einfach Spaß gemacht. Dass sie nun bei dieser Sensation, dem Nachweis des Higgs-Boson, dabei war, sei ein Zufall. Ihre Familie habe sich an den Rummel rund um das Thema gewöhnt.

95 Prozent unseres Universums sind uns noch immer unbekannt. Mit den neuen Experimenten am LHC hoffen die Wissenschaftler, einige Prozent mehr und damit Fragen zur Dunklen Materie oder dem Urknall klären zu können. Viele verschiedene Modelle und Theorien werden diskutiert. Was werden die nächsten Jahre bringen, Frau Tackmann? "Wir werden sehen, was wir messen."

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