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Internationale KI-Kooperation

„Wir können kaum erwarten, unsere Expertise zu bündeln“

Der kanadische Informatiker Yoshua Bengio und der Mathematiker und Physiker Fabian Theis arbeiten ab sofort mit ihren Teams im Helmholtz International Lab „Causal Cell Dynamics“ zusammen (Bild: Collage aus Maryse Boyce; Technische Universität München TUM/Astrid Eckert).

Das Helmholtz International Lab „Causal Cell Dynamics“ arbeitet jetzt mit dem KI-Forschungsinstitut Mila aus Kanada zusammen. Das Ziel: zelluläre Prozesse bei der Entstehung von Krankheiten mithilfe von Big Data und KI verstehen. Fabian Theis und Yoshua Bengio erklären die Idee. 

Yoshua, Sie sind Gründer und Leiter des Mila – Quebec AI Institute mit etwa 500 Forschern im Bereich KI. Was können Fabian und sein Team Ihnen geben, was Sie noch nicht haben?

Yoshua Bengio: Wir sind eine der weltweit größten Forschungseinrichtungen im KI-Bereich. Wir forschen mit künstlicher Intelligenz in vielen verschiedenen Bereichen, in denen Maschinen oder Menschen von Daten oder von der Interaktion mit ihrer Umgebung lernen. Am besten sind wir für unsere Arbeit mit Maschinellem und Verstärkendem Lernen bekannt. Maschinelles Lernen ist in vielen Bereichen von Bedeutung, zum Beispiel in der biomedizinischen Forschung, der Robotik, der Verarbeitung natürlicher Sprache, den kognitiven Neurowissenschaften und der Bildverarbeitung. Natürlich liegt ein großer Schwerpunkt auf der Konstruktion und Analyse von Algorithmen sowie der Entwicklung verantwortungsvoller KI-Anwendungen, also zum Wohle der Menschheit. Fabian und sein Team haben viel Erfahrung mit der Zelldynamik, auf die sie spezialisiert sind, und die grundlegende KI-Forschungsfragen rund um die Modellierung von Ursache und Wirkung aufwirft – im Moment eines der spannendsten Themen beim Maschinellen Lernen. Der Ansatz des Teams vom Institute of Computational Biology unter der Leitung von Fabian, der Einzelzelltechnologien in den Mittelpunkt stellt, macht dieses Thema für uns noch interessanter.

Was ist die Idee hinter den Einzelzelltechnologien?

Fabian Theis: Vor ein paar Jahren klang das enorme Potenzial der KI für das Verständnis zellulärer Prozesse wahrscheinlich noch ziemlich weit hergeholt. Aber der jüngste technologische Fortschritt in der Einzelzellgenomik, also der Sammlung von Daten des Zellzustandes, ist unglaublich. In der traditionellen Genomik analysieren wir normalerweise den Durchschnitt über eine große Anzahl von Zellen, häufig 100.000 oder mehr. Als Ergebnis erhalten wir die mittlere Entwicklung vieler Einzelzellen, die oft die eigentlichen zellulären Vorgänge verschleiert. Deshalb ist das, was die meisten Experimente betrachten, eigentlich eine große Mischung, etwa wie ein Smoothie. Im Gegensatz dazu beobachten wir bei der Einzelzellgenomik, was in den einzelnen Zellen passiert. Wir betrachten also eher den Obstsalat, bevor er zum Smoothie wird. Dieser Grad an Details ermöglicht tiefere Einblicke.

„Zellen sind das, was das menschliche Leben ausmacht.“

Aber ist es wirklich wichtig, was eine einzelne Zelle tut? 

Fabian Theis: Zellen sind das, woraus wir aufgebaut sind. Die Kommunikation und der Stoffwechsel von Zellen ist das, was das menschliche Leben ausmacht. Folglich spielen sie bei den meisten Krankheiten eine elementare Rolle. Zum Beispiel Diabetes: Die Krankheit resultiert aus einer Veränderung der zellulären Prozesse. Aber auch bei der Beobachtung einzelner Zellen betrachten wir natürlich nicht nur eine, sondern viele einzelne Zellen, bis hin zu Millionen davon, mit mehr als 20.000 Messungen pro Zelle – echte Big Data. Indem wir diese Daten mit KI-Methoden analysieren, haben wir bereits viele vielversprechende Strukturen und kritische Mechanismen identifiziert, um die weitere Entwicklung der Zellen vorherzusagen. Mit den KI-Experten von Mila wollen wir den nächsten Schritt gehen. 

Der kanadische Informatiker Yoshua Bengio hat das KI-Forschungsinstitut Mila im Jahr 1993 gegründet (Bild: Maryse Boyce).

Yoshua Bengio: Wir kennen uns von Forschungsaufenthalten; es war also abzusehen, dass wir eines Tages zusammenarbeiten würden. Jetzt, wo es losgeht, sind wir aufgeregt: Wir können es kaum erwarten, mit der großen Menge Biodaten der Helmholtz-Kollegen zu arbeiten und die Erfahrungen unserer Forschungsgruppen zusammenzuführen, um diese Datensätze weiter zu analysieren, zu vergleichen, zu strukturieren und zu durchsuchen. Unser Ziel ist es, Methoden des maschinellen Lernens zu entwickeln, um die Zelldynamik zu erfassen, d.h. um besser zu verstehen, wie Zellen agieren und reagieren. Denn je mehr wir über die tieferliegenden Algorithmen und Mechanismen wissen, desto besser verstehen wir, warum sich Zellen bei bestimmten Krankheiten verändern – und wie man sinnvoll in diese Prozesse eingreifen könnte. 

Fabian Theis: Wichtig hierbei ist, dass wir nicht einfach nach Korrelationen suchen. Wir wollen einen Schritt weiter gehen. Wir wollen unter den Korrelationen diejenigen finden, die für Gesundheit und Krankheit relevant sind. Unser Ziel ist es, die wesentlichen Kausalitäten verstehen und mit unseren Modellen auch vorhersagen zu können: Welche Auswirkung hat ein bestimmtes Medikament auf den Stoffwechsel einzelner Zellen? Welche Veränderung oder welcher Defekt verursacht die Entstehung bestimmter Krankheiten? Und wie wirken bestimmte Effekte mit welchem Ergebnis?

„Wir wollen besser verstehen, wie Zellen agieren und reagieren.“

Gibt es ein konkretes Beispiel für eine Anwendung dieses kausalen Ansatzes?

Yoshua Bengio: Nehmen wir die große Herausforderung der aktuellen COVID-19-Krise. Viele Kandidaten für die Behandlung von COVID-19 werden in klinischen Studien untersucht. Von den zahlreichen möglichen Kombinationen können natürlich nicht alle erprobt werden, es sind einfach zu viele. Die aktuellen Studien könnten also Synergieeffekte übersehen: Jedes Medikament für sich genommen zeigt vielleicht keine große Wirkung, aber in einer bestimmten Kombination könnten sie eine wirksame Behandlung darstellen. Diese Synergieeffekte liegen oft auf der Ebene von Zell-Signalwegen und -Mechanismen. Zum Beispiel wissen wir bereits von einigen Synergieeffekten bei der Multidrug-Behandlung bei HIV. Würden wir mehr über die zugrundeliegenden zellulären Mechanismen bei COVID-19 und seiner Behandlung herausfinden, könnten wir Synergieeffekte identifizieren, die mit spezifischen Kombinationen von Behandlungen möglich sind. 

Es geht also nicht nur darum zu verstehen, was passiert, sondern auch um eine Art Simulation, die die weitere Forschung steuert? 

Yoshua Bengio: In der Tat ist dies ein wichtiges Potenzial der KI in der Zelldynamik: die Erstellung eines Modells komplexer Prozesse. Und auf Basis dieses Modells Vorhersagen zu treffen; zu verstehen, wie man etwas bewirkt. 

Der Mathematiker und Physiker Fabian Theis ist Direktor des Instituts für Computational Biology am Helmholtz Zentrum München und Professor für Biomathematik an der TU München (Bild: Technische Universität München TUM/Astrid Eckert).

Fabian Theis: Die zugrundeliegenden Mechanismen zu erkennen und zu verstehen, kann bereits sehr hilfreich sein: In vielen Fällen inspiriert das generierte Wissen weitere Forschungen von Wissenschaftlern auf der ganzen Welt, beispielsweise um Prozesse bei Krankheiten durch medikamentöse Behandlungen oder andere Eingriffe umzukehren.  

Yoshua Bengio: Zum Beispiel bei Krebs. Wenn wir diese Mechanismen besser und genauer verstehen, haben wir auch das Potenzial, die Risikofaktoren und Therapiemöglichkeiten vieler Krankheiten besser zu verstehen – wie zum Beispiel Diabetes.

Und welche Rolle spielen Big Data dabei? 

Yoshua Bengio: Daten sind die Grundlage unserer Forschung und der Anwendung von KI. Kein Mensch kann all diese Hunderttausende von Datenpunkten erfassen, ein Computer aber schon!

„Daten sind die Grundlage unserer Forschung.“

Fabian, dank des Helmholtz-Netzwerks haben Sie Zugang zu vielen Daten, das Helmholtz Zentrum München hat eine der größten Biodatenbanken Europas. Sie leiten das angegliederte Helmholtz Institute of Computational Biology, zu dem auch das Helmholtz International Lab „Causal Cell Dynamics“ gehört. Worauf basieren die Helmholtz International Labs? 

Fabian Theis: Die ausgewählten Forschungslabore erhalten von der Helmholtz Gemeinschaft eine mehrjährige Förderung zum Ausbau internationaler Verbindungen und Netzwerke. Das schafft ein wirklich fruchtbares und produktives Umfeld, weil wir es uns leisten können, mehr vielversprechende Doktoranden anzuwerben und unseren internationalen Austausch und die Zusammenarbeit zu stärken. Dadurch erhalten wir wesentliche Zutaten für herausragende Forschung: finanzielle Mittel und kluge Köpfe. Die neue Zusammenarbeit mit Mila ist vorteilhaft für beide Aspekte und beide Institutionen. Wir wollen das gemeinsam ausarbeiten – für deutliche Fortschritte in der KI und in der Grundlagenforschung. 

Mila

Institute of Computational Biology

Helmholtz AI

Helmholtz International Labs

Mit einem International Lab schließt sich ein Helmholtz-Zentrum mit einer renommierten internationalen Partnereinrichtung zusammen, die ein innovatives Forschungsthema mit hoher strategischer Relevanz für Helmholtz bearbeitet. Ziel ist es, eine sichtbare Forschungsaktivität von Helmholtz an einem ausländischen Standort zu etablieren und gleichzeitig eine dauerhafte strategische institutionelle Partnerschaft zu schaffen. Das International Lab „Causal Cell Dynamics“ wird für fünf Jahre aus dem Impuls- und Vernetzungsfonds der Helmholtz-Gemeinschaft kofinanziert.

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