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Lässt sich ein Ende der Coronakrise vorhersagen?

Auf der ganzen Welt arbeiten Forscher an Rechenmodellen, um die Dynamik der Corona-Ausbreitung vorhersagen zu können. Bild: Shutterstock

Ist das Coronavirus wirklich unberechenbar? Auch in Deutschland arbeiten Epidemiologen mit Mathematikern und Geophysikern an Rechenmodellen, die die Dynamik der Corona-Ausbreitung und die Wirkung von Eindämmungsmaßnahmen vorhersagen sollen. Fest steht: Die Weltgemeinschaft braucht einen langen Atem, um sich erfolgreich gegen COVID-19 zu wappnen.

#COVID2019 und #Flattenthecurve sind derzeit vermutlich die weltweit meistbesuchten und -kommentierten Twitter-Hashtags. Was hilft, um die exponentiell wachsende Kurve der Coronavirus-Erkrankungen abzuflachen – und wann sind die Effekte spürbar? Auf eine klare Antwort kann und will sich die Wissenschaftsgemeinde noch nicht festlegen – dafür wissen wir bisher noch zu wenig über SARS-CoV-2. Wenn man eines sicher über die Pandemie sagen kann – dann, dass nichts sicher ist. In allen Teilen der Welt arbeiten Biologen und Mediziner an einen Impfstoff und wirksamen Medikamenten. Doch auch Mathematiker, Statistiker und Geophysiker rücken jetzt in den Blickpunkt. Zum einen geht es darum, die Daten zum bisherigen Ausbruchsgeschehen aufzubereiten und aus ihnen Erkenntnisse zu ziehen. Zum anderen entwickeln sie Modelle, die helfen sollen, die weitere Ausbreitung des Virus vorherzusagen.

Daten zur Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland

Eine dieser Forschergruppen arbeitet am Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology (CEDIM) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Gemeinsam mit der Risklayer GmbH, einer Analysedatenbank zur Risikobewertung, haben sie Karten zur Ausbreitung des Virus in Deutschland und weltweit veröffentlicht. Die Seite http://risklayer-explorer.com/event/100/detail wird fortlaufend aktualisiert.

Unter anderem lässt sich damit verfolgen, wie sich die Zahl der Neuinfektionen pro Tag in den zurückliegenden zwei Wochen verändert hat. „Unser Ziel ist es, einen Überblick über die Anzahl der mit dem neuartigen Coronavirus infizierten Personen im Vergleich zur Bevölkerung zu erstellen“, sagt der Geophysiker James Daniell, Mitgründer von Risklayer. Das Team nutzt offizielle Statistiken von Gesundheitsministerien und lokalen Regierungen. Bisher haben die Wissenschaftler mit der Scraping-Methode – also dem Zusammenführen von Informationen durch gezieltes Sammeln der benötigten Daten von Webseiten – über 5.000 Datenquellen analysiert. Außerdem haben sie eine Crowdsourcing-Initiative gestartet und wollen so mithilfe Freiwilliger in Deutschland noch schneller die neuesten Daten zusammentragen. Dabei werten sie neben der Anzahl der COVID-19-Fälle auch demografische Informationen wie die Einwohnerzahl oder das Alter der betroffenen Personen aus.

Ein Problem in Deutschland sei, dass es hier wie auch in vielen anderen Industrieländern kein offenes Online-Portal gebe, in dem die aktuellen Daten in den Bundesländern bis hinunter zur Kreisebene zeitnah erfasst und ausgewertet werden können. Das sei in China, in anderen asiatischen Ländern und in vielen Entwicklungsländern anders: „Hier zeigt sich, dass Länder, die in den zurückliegenden Jahren regelmäßig von schweren Naturkatastrophen wie Tsunamis oder Erdbeben betroffen waren, mit solchen offenen Portalen für den nächsten Ernstfall vorgesorgt haben“, erläutert James Daniell. Die Zahlen, die das Robert-Koch-Institut (RKI) täglich präsentiert, hinkten immer mindestens 24 Stunden hinter den tatsächlichen Zahlen her. Denn genau so lange brauche es, bis die von den Kommunen erfassten Fälle die Bundesebene und damit das RKI erreichen. 

Diese Zeitspanne könnte mit einer zunehmenden Zahl von Infizierten steigen. Denn: „Die aktuell hohe Arbeitsbelastung der Gesundheitsämter vor Ort kann besonders bei Gesundheitsämtern mit hohen Fallzahlen zu einer Verzögerung der Dateneingabe und der Übermittlung der Fälle führen", erklärte etwa das Gesundheitsministerium in Baden-Württemberg.

Hilft in dieser Situation die totale Ausgangssperre, um die Neuinfizierungen einzudämmen? Oder ist eine partielle Isolierung von besonders gefährdeten Menschen mit Vorerkrankungen und in hohem Alter die bessere Wahl? Ein weiterer Ansatz: Sollte man einfach so viele Menschen wie möglich einmal an COVID-19 erkranken lassen, um die sogenannte Herdenimmunität zu erreichen und so dem Virus keine Chance mehr zu geben?

Der Direktor des Jülich Supercomputing Centre Thomas Lippert will mithilfe von Höchstleistungsrechner-Kapazitäten schnell Daten zur Ausbreitung des Virus sammeln.Bild: FZ Jülich / Ralf-Uwe Limbach

Mathematische Modelle zur Dynamik des Corona-Ausbruchs

Antworten auf diese Fragen im Kampf gegen das Coronavirus sucht das Forschungszentrum Jülich, das dafür seine Höchstleistungsrechner-Kapazitäten zur Verfügung stellt. „Vordringlich bringen wir jetzt Experten aus unserem wissenschaftlichen Netzwerk zusammen, um möglichst schnell präzise Daten zur Ausbreitung des Virus und zur Entwicklung von Medikamenten zu erhalten. Ich rechne im Augenblick damit, dass wir schon bald erste Ergebnisse haben werden“, sagt Prof. Thomas Lippert, Direktor des Jülich Supercomputing Centre (JSC) im Forschungszentrum Jülich.

Zusammen mit weiteren internationalen Forschungseinrichtungen und Unternehmen hat sich das Forschungszentrum einer Initiative des kanadischen Quantencomputer-Herstellers D-Wave Systems Inc. angeschlossen. Ziel ist es, Forscherinnen und Forscher bei der Entwicklung von Lösungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie zu unterstützen. D-Wave verschafft Nutzern, die zu COVID-19 forschen, freien Zugang zu Quantencomputer-Systemen. Bei der Umsetzung helfen Ingenieurteams der beteiligten Partner, zu denen neben dem Forschungszentrum Jülich unter anderem CINECA, Kyocera, NEC Solution Innovators Ltd., das QAR-Lab der LMU München, die Universität Tōhoku und Volkswagen gehören.

Gemeinsam mit der Universität Heidelberg und dem Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) entwickelt das JSC mathematische Modelle zur Dynamik des Corona-Ausbruchs in Deutschland, mit denen sich auch der Effekt von Maßnahmen zur Eindämmung simulieren lässt. Das Ziel sind Prognosen, wann der Ausbruch seinen Höhepunkt erreichen wird und wie viele Menschen erkranken könnten. Zudem stellt das JSC gemeinsam mit seinen Partnern im Gauss Centre for Supercomputing (GCS) Rechenzeit zur Verfügung.

Rechenzeit, wie sie zum Beispiel auch in dem Projekt EXSCALATE4CORONAVIRUS (E4C) gebraucht wird. In dem Vorhaben sollen mithilfe der derzeit leistungsfähigsten europäischen Computerressourcen in Barcelona (BSC), Bologna (CINECA) und Jülich computergestützt Wirkstoffe zur Entwicklung von Medikamenten gegen das neuartige Coronavirus simuliert werden (In-Silico-Drug-Design). Auch das Jülicher Institut für Neurowissenschaften und Medizin, Computational Biomedicine ist beteiligt. Das E4C-Team verwendet Supercomputer, um molekulare Simulationen sowie biochemische und phänotypische Screenings von vorhandenen Medikamenten gegen SARS-CoV-2 durchzuführen. Damit reduziert sich die Zeit für die Entdeckung neuer Medikamente.

Kann das Prinzip der Herdenimmunität funktionieren?

Ein anderer Ansatz ist, darauf zu hoffen, dass sich möglichst bald die sogenannte Herdenimmunität einstellt. Das ist dann der Fall, wenn eine ausreichend große Anzahl an Menschen die Krankheit durchgemacht hat und anschließend immun ist. Diese Menschen übertragen die Krankheit dann auch nicht mehr. Infizierte treffen nicht mehr auf genug Menschen, die das Virus weiterverbreiten. Die Zahl der Infizierten nimmt dadurch immer mehr ab.

In dem Projekt „Modelling Corona Spread“ (MOCOS) haben die Mathematiker Wolfgang Bock von der Technischen Universität Kaiserslautern und Thomas Götz von der Universität Koblenz-Landau gemeinsam mit polnischen Forscherinnen und Forschern der Medizinischen Universität und der Technischen Universität Wroclaw gezeigt, dass dies zu Problemen führt: „Wir konnten an unseren Simulationen sehen, dass eine Strategie, die darauf abzielt, die Krankheit kontrolliert durchlaufen zu lassen, ohne dass das Gesundheitssystem überansprucht wird, scheitert. Darüber hinaus würde sich die Herdenimmunität nach den MOCOS-Berechnungen in einem Szenario, in dem man die Krankheit kontrolliert durchlaufen lässt, noch nicht einstellen. Höchstens 15 Prozent der Bevölkerung wären betroffen. Das sind zu wenige, um vor einer zweiten Corona-Welle zu schützen. Zugleich würde das Gesundheitssystem durch die hohe Zahl von parallel Erkrankten und Intensivpatienten stark belastet. Die Wissenschaftler folgern, „dass schnelle, effektive und harte Maßnahmen bis zum Auslaufen der Krankheit sinnvoll sind – je härter die Maßnahmen, desto schneller kommt man durch die Krise.“

Auch der an der London School of Hygiene & Tropical Medicine forschende Epidemiologe Sebastian Funk beschäftigt sich mit der Modellierung der COVID-19-Pandemie. Gegenüber dem SPIEGEL äußerte er: „Es ist im Moment schwierig, sich vorzustellen, wie es global gelingen soll, das Virus zu eliminieren.“ Wenn aber die komplette Ausrottung nicht gelinge, sagt Funk, blieben als Optionen nur noch, den Lockdown des öffentlichen Lebens zum Dauerzustand bis zur Entwicklung eines Impfstoffes zu machen – „oder ansonsten zu akzeptieren, dass sich ein großer Teil der Bevölkerung infizieren muss".

Ein radikaler Lockdown mit strengen Ausgangssperren über viele Wochen oder sogar Monate hat jedoch – so viel steht fest – nicht nur verheerende Wirkung auf die Wirtschaft, sondern auch auf die psychische Verfassung der Bevölkerung. Neben dem Verzicht auf viele Freiheiten drohen finanzielle Sorgen, falls Arbeit- oder Auftraggeber den Betrieb zurückfahren oder gar insolvent gehen.

Würden die Einschränkungen bei einem kurzfristigen oder auch nur vermeintlichen Rückgang der Erkrankungen jedoch zu früh gelockert, könnte es zu einer erneuten starken Infizierungswelle kommen. Diese müsste wiederum mit starken Einschränkungen des öffentlichen Lebens beantwortet werden – eine Spirale entsteht.

In Europa und in den USA, die jetzt zum Zentrum der Corona-Ausbreitung geworden sind, scheint es derzeit also nur die Wahl zwischen mehreren Übeln zu geben, um mit Corona fertig zu werden. Sehr anschaulich fasst ein Beitrag des WDR-Wissenschaftsmagazin „Quarks“ die verschiedenen Optionen zusammen, die wir haben, um Corona zu bekämpfen. Alle sind auf ihre Weise mit unangenehmen Folgen für die Bevölkerung verbunden und zeigen, dass uns die Pandemie noch lange begleiten wird. Forschung zu SARS-CoV-2 ist deshalb wichtiger denn je, um das Virus beherrschbar zu machen. Ausrotten lässt es sich vermutlich nicht ohne weiteres.

Forschung des Forschungszentrums Jülich zu COVID-19

Forschung des Karlsruher Instituts für Technologie zu COVID-19

Aktuelle Forschung, Zahlen und Fakten zu SARS-CoV-2

Hier finden Sie Erklärungen wichtiger Begriffe rund um das Coronavirus SARS-CoV-2.

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