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Portrait

Den Krebs verstehen lernen

Ulrike Stein

Bild: David Ausserhofer

Die Berliner Forscherin Ulrike Stein hat ein Gen entdeckt, das für das Wachstum von Tumoren verantwortlich ist. Wird dadurch Krebs künftig berechenbarer?

Der Blick aus den Fenstern im vierten Geschoss bleibt in der Ferne an den welkenden Blättern der Bäume hängen. Wenn sie im Winter abgefallen sind, soll man von hier aus, dem nördlichen Berliner Stadtteil Buch, den Fernsehturm in der Stadtmitte sehen können. Doch diese weitläufige Aussicht steht in einem eigentümlichen Kontrast zu dem Büro, das sie ermöglicht. Über zwei vollgepackten Schreibtischen hängen Regale, die bis zum letzten Zentimeter mit Aktenordnern gefüllt sind. An einem der Tische sitzt die Krebsforscherin Ulrike Stein.

Fünf Jahre ist es jetzt her, dass sie und ihre Kollegen Peter Schlag und Walter Birchmeier eine Aufsehen erregende Entdeckung gemacht haben. Bei Darmkrebspatienten identifizierten sie ein Gen, das nicht nur für das Krebswachstum, sondern auch die Bildung von Metastasen verantwortlich ist. Bald zeigte sich, dass mit MACC1, wie das Gen heißt, ein weiterer Stein im Mosaik der Krebsforschung gefunden war – und die Therapiemöglichkeiten, die sich daraus ergeben könnten, scheinen großartig.

Für Ulrike Stein, Anfang Fünfzig, ging ein Kindheitstraum in Erfüllung. Von klein auf wollte sie Krebsforscherin werden, hatte schon in der Schule einen Aufsatz darüber geschrieben. Das habe persönliche Gründe, erzählt sie, ohne konkreter zu werden. Sie möchte lieber über ihre Forschung berichten. Ihre Karriere hat Ulrike Stein noch in der DDR begonnen: In Halle studierte sie Biochemie, war anschließend Doktorandin am damaligen Zentralinstitut für Krebsforschung in Buch – und dann kam die Wende. Die neue Freiheit nutzte Stein, um mit ihrem Mann und ihrem Sohn in die USA zu gehen. Dort arbeitete sie am National Cancer Institute in Frederick, Maryland. Es muss eine prägende Zeit gewesen sein: Bis heute fährt sie jedes Jahr für einige Wochen zurück, um den Kontakt zu ihren Kollegen zu pflegen und gemeinsame Projekte anzugehen, erzählt sie begeistert.

Die Rückkehr nach Deutschland Mitte der 90er Jahre führte Ulrike Stein zurück nach Berlin-Buch. Hier am Max-Delbrück- Centrum (MDC) wurde schon damals Grundlagenforschung betrieben, deren Erkenntnisse angewendet wurden, um Krankheiten zu verhindern und zu behandeln. Solch anwendungsbezogene Forschung war immer das, was sie machen wollte, erzählt sie: „Hier war das möglich. Deshalb bin ich zurückgekommen, obwohl ich Angebote auch aus den USA hatte.“ Später hat sie habilitiert und eine Professur erhalten. So ist sie geblieben, hat noch eine Tochter bekommen und wohnt heute mit ihrer Familie ganz in der Nähe ihres Büros.

Im Labor arbeitet Ulrike Stein nicht mehr. Als Leiterin der Arbeitsgruppe „Translationale Onkologie solider Tumore“ am Experimental and Clinical Research Center des MDC und der Uni-Klinik Charité hat sie zu viele andere Aufgaben. Sie treibt das Networking mit anderen Arbeitsgruppen voran, besucht Konferenzen, sucht Partner in der Industrie und beobachtet die weltweite Forschung in diesem Bereich. Auf ihrem Schreibtisch sind Mail-Korrespondenzen säuberlich sortiert. Flink findet sie, wonach sie sucht. Effizient muss sie sein, um all diese Aufgaben zu erledigen. „Vor allem muss ich vorgeben, wohin sich unsere Forschung entwickeln soll“, erzählt sie.

Auf die Leistungen ihrer rund 30 Mitarbeiter ist sie besonders stolz. Allen gemeinsam sei das Ziel: „Wir wollen verhindern, dass die Patienten an Krebs sterben“, bringt es Ulrike Stein auf den Punkt. Mit der Entdeckung des Gens MACC1 könnten sie dazu einen wichtigen Beitrag leisten, denn darüber lasse sich vorhersagen, wie sehr ein Tumor zur Metastasenbildung neigt. Gerade das macht Tumore so gefährlich. „Wir können jetzt Medikamente gegen diese Metastasenneigung entwickeln.“ 30.000 Substanzen wurden bereits auf eine solche hemmende Wirkung hin getestet. Mittlerweile wisse man, dass das Gen in vielen soliden Tumoren eine wichtige Rolle spiele, bei Lungenkrebs, Magenkrebs, Brustkrebs, Leberkrebs und vielen anderen Krebsarten. MACC1 lässt sich sogar im Blut der Patienten nachweisen und ist damit ein wichtiger Biomarker. Als Koordinator des Cancer Department am MDC kennt Claus Scheidereit ihre Forschung aus nächster Nähe. „Durch die Identifizierung verantwortlicher Gene hat Ulrike Stein gezeigt, dass die molekulare Grundlagenforschung ganz dicht an der praktischen Anwendbarkeit ist.“

„Anfangs hatten wir einige schlaflose Nächte“, sagt Ulrike Stein, wenn sie an die Zeit der ersten Veröffentlichungen ihrer Forschung zurückdenkt. Schließlich wisse man nie, ob andere Wissenschaftler die eigenen Ergebnisse bestätigen. Inzwischen sind hunderte Folgepublikationen von Kollegen erschienen, die ihre Ergebnisse bekräftigen. Ulrike Stein sammelt die wichtigsten Aufsätze dazu. Sie füllen weitere Aktenordner in ihrem Büro und bieten für Forscher wie Patienten vielversprechende Aussichten.

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