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Interview

COVID-19-Ausbrüchen mit Big Data zuvorkommen

Die Karte zeigt eine Visualisierung der Verbreitung von Symptomen in der Gegend um Tel Aviv. Bild: Weizmann-Institute

Israelische Forscher haben eine Methode zur Vorhersage der Verbreitung des neuartigen Coronavirus entwickelt. Sie ermöglicht es den Behörden, die Anstrengungen auf Bereiche zu konzentrieren, in denen ein Ausbruch erwartet wird, und Maßnahmen in anderen Bereichen zu erleichtern.

Andrea Frahm, die im Helmholtz-Büro Israel in Tel Aviv das bilaterale Innovationsmanagement und den Technologietransfer verantwortet, traf sich per Zoom mit dem Team aus dem Labor von Eran Segal und hat sich mit Hagai Rossman, einem der Datenwissenschaftler des Teams, unterhalten, um aus erster Hand Informationen über das Tracking-Tool zu bekommen. Es erfasst COVID-19-typische Symptome in der Bevölkerung und kann mithilfe von Künstlicher Intelligenz Ausbreitungsmuster erkennen. 

Auf Ihr Tracking-Tool, das als Initiative des Weizmann-Instituts begann, wurden bald schon führende israelische Gesundheitsdienstleister aufmerksam, bevor es offiziell vom Gesundheitsministerium als gemeinsames Projekt eingeführt wurde. Inzwischen wird es vom gesamten Staat genutzt. Wie kam die Idee zustande?

Hagai Rossman: Eran Segal kam vor etwa drei Wochen auf diese Idee – mit dem Ziel, der Pandemie mit Daten beizukommen. Südkorea ist ein gutes Beispiel dafür: Je mehr Informationen man hat, desto besser kann man den Kampf gegen die Krankheit führen. Die beste Methode ist natürlich, so viel wie möglich zu testen, was in Israel bisher nur in begrenztem Umfang geschieht. Deshalb haben wir über ein kostenloses strategisches Tool nachgedacht, in Form einer einfachen, einminütigen Befragung, in der israelische Bürgerinnen und Bürger - unabhängig davon, ob sie krank oder gesund sind - einmal täglich angeben, welche Symptome sie in Bezug auf COVID-19 haben. Jeder kann die Informationen über die Website coronaisrael.org eingeben, die in verschiedenen Sprachen zur Verfügung steht. Wir sind seit etwa drei Wochen online, und die Resonanz war mit etwa 50.000 Rückmeldungen in der ersten Woche von Anfang an gewaltig. Wir sehen jetzt einen rasanten Anstieg auf über eine halbe Million Rückmeldungen pro Woche. Das ist richtig explodiert, und unser Team ist seitdem täglich in den nationalen Medien präsent. Wir haben von Anfang an eng mit dem Gesundheitsministerium zusammengearbeitet, und sie haben inzwischen unsere Erhebung übernommen und offiziell allen wichtigen Gesundheitsdienstleistern in Israel zur Verfügung gestellt.

Was war bisher Ihr Hauptziel?

Zoom-Call mit Prof Eran Segal vom Weizmann-Institut in Rechovot / Israel. Segal forscht an Big-Data-Anwendungen in der Medizin.

Hagai Rossman: Unser Ziel ist es, eine Million Abfragen pro Tag zu erreichen, was 20 Prozent der israelischen Bevölkerung entspricht. Sobald wir die Ausgangslage im Hinblick auf die Symptome in der Bevölkerung kennen und sobald wir einen Höhepunkt in bestimmten Gebieten beobachten, sind wir hoffentlich in der Lage, Cluster-Ausbrüche in bestimmten Regionen vorherzusagen. Ein gutes Beispiel ist der Ausbruch in den ultraorthodoxen Vierteln hier in Israel, denn die Mehrheit der infizierten israelischen Patienten lebt in diesen Gebieten. So konnten wir zum Beispiel in Bnei Brak, einer ultraorthodoxen Stadt in der Nähe von Tel Aviv, die Entwicklung anhand unserer Daten noch vor dem Ausbruch erkennen.

Erfassen Sie auch personenbezogene Daten derjenigen, die Ihnen die Informationen zur Verfügung gestellt haben?

Hagai Rossman: Wir handeln als wissenschaftliche Institution, in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium. Wir verbinden die uns vorliegenden Daten mit den Daten, die das Gesundheitsministerium über infizierte Personen und deren bisherige Aufenthaltsorte zur Verfügung stellen kann, um potenziell bevorstehende Ausbrüche im Voraus zu identifizieren. Wir wollen Probleme mit dem Datenschutz grundsätzlich vermeiden, also identifizieren wir die Menschen nicht als konkrete Individuen.

Wie ist es Ihnen gelungen, die Informationen aus den ultraorthodoxen Vierteln oder von anderen Minderheiten, also der arabischen Bevölkerung, zu erhalten, wenn man bedenkt, dass einige dieser Gemeinschaften das Internet nicht nutzen?

Hagai Rossman: Das ist in der Tat eine Herausforderung, aber es gab doch an die 2.000 bis 3.000 von ihnen, die die Fragen beantwortet haben. Wir versuchen, möglichst viele verschiedene Minderheiten zu erreichen. So ging Eran zum Beispiel vor einigen Tagen ins arabische Fernsehen, um die Menschen dazu zu bewegen, die Fragen zu beantworten. Darüber hinaus versuchen wir, mit Führungspersönlichkeiten aus diesen Gebieten zu sprechen, und wir sehen danach tatsächlich immer einen deutlichen Anstieg bei den eingegangenen Daten. Es ist ein großes Problem, das wir versuchen, proaktiv anzugehen.

Steht das Instrument auch den palästinensischen Behörden zur Verfügung? Ich will jetzt gar nicht auf den politischen Aspekt eingehen, nehme aber an, dass die Befragung sehr hilfreich wäre, um Ausbrüche im Gazastreifen oder im Westjordanland zu verhindern. Wie sieht es mit anderen Ländern aus?

Hagai Rossman: Jeder in der Region kann an der Befragung teilnehmen. Wir befinden uns momentan noch in einer Aufbauphase und planen derzeit auch, das Tool international einzuführen. Viele Länder haben bereits Interesse bekundet, und es gibt ein internationales Konsortium, das mit verschiedenen Ländern begonnen hat. Unser großes Ziel ist es, dass alle ihre Daten zur Verfügung stellen, damit wir alle voneinander lernen und dieser Herausforderung gemeinsam begegnen können.

Was wäre der nächste Schritt für die Zukunft? Wie sehen Ihre Pläne im Hinblick auf eine mögliche Exit-Strategie aus?

Hagai Rossman: Wir verfolgen da mehrere Richtungen. Zunächst einmal wollen wir deutlich differenziertere Modelle verwenden. Wir wollen vorher wissen, wie sich die Sache entwickelt, sobald die Symptome einsetzen, was große Datenmengen und erheblichen Modellierungsaufwand erfordert. Darüber hinaus würden wir, wie schon gesagt, gern auf Daten und Modelle von Forschern aus der ganzen Welt zurückgreifen, damit wir das Tool noch effektiver machen können. Und natürlich werden wir, was eine mögliche Exit-Situation betrifft, das Tool dazu nutzen, um Orte zu identifizieren, wo die Einschränkungen schrittweise wieder aufgehoben werden können.

Falls Sie sich an dem internationalen Konsortium beteiligen möchten, wenden Sie sich bitte an Prof. Eran Segal, E-Mail eran@weizmann.ac.il. Updates und Informationen zu unserer bilateralen Zusammenarbeit erhalten Sie bei unserem Büro in Israel, E-Mail:  tel-aviv@helmholtz.de und/oder per Twitter https://twitter.com/helmholtz_il

Weizmann Institute of Science

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