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Blickwinkel

Wie marktnah sollen Forscher arbeiten?

Horizon Europe – so heißt das nächste EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation, das 2021 startet und Fördergelder in Milliardenhöhe bietet. Geförderte EU-Projekte sollen vor allem marktreife Ergebnisse im Blick haben. Doch ist das die richtige Strategie? Woher kommen die neuen Ideen für übermorgen? 


„Die Forschung in Europa hat ein gewaltiges Potenzial, und es liegt im Interesse von uns allen, es besser zu nutzen.“

Peter Dröll ist Direktor für den Bereich „Wohlstand“ in der Generaldirektion Forschung und Innovation der Europäischen Kommission.

Gleich vorweg: Es geht hier nicht um die Frage der Forschungsfreiheit. Sie ist ein hohes Gut, das wir alle schützen wollen und ständig verteidigen müssen. Klar ist auch, dass jeder Forscher einen Beitrag für die Allgemeinheit leisten will und dass die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft für beide Seiten gut ist – gemessen daran, wie viele Veröffentlichungen daraus resultieren und wie viel Innovationskraft und Wirtschaftsleistung aus der Zusammenarbeit entsteht. 

Für mich steht außer Frage: Die Forschung in Europa hat ein gewaltiges Potenzial, und es liegt im Interesse von uns allen, es besser zu nutzen. Das wird allein beim Blick auf die Zahlen deutlich; so kommt ein Drittel der wissenschaftlichen Veröffentlichungen aus Europa – aber nur ein Fünftel der Patente.

Was treibt uns aber bei dieser Frage um, warum polarisiert sie? Geht es darum, Mittel für den „eigenen“ Bereich zu sichern – Grundlagen anstatt Marktnähe zu fördern? Ich halte diese Polarisierung nicht für zielführend: Es geht um das Gesamtvolumen der Forschungsinvestitionen. Aus vielen Gesprächen mit Forschern schließe ich, dass der Kern der Bedenken in der „B-Frage“ liegt: Bürokratie gegen Forschung. Das Abfragen von möglichen Anwendungsfeldern schon bei der Projektantragstellung, die Pflicht zur Vorlage von Plänen zur Markteinführung wird von Forschenden als  der „wirklichen“ Aufgabe abträglich empfunden. 

Zusätzlicher Aufwand und Kosten entstehen dabei sicher. Aber die Kosten, diese Erwägungen nicht von Anfang an in ein europäisches Verbundprojekt einzubringen (Projekte mit einer Dauer von vier Jahren, einem durchschnittlichen Budget von sechs Millionen Euro und zwölf Partnern) wären viel höher. Wollen wir es uns wirklich leisten, Erkenntnisgewinn in Europa öffentlich zu finanzieren ohne Blick darauf, wer daraus Gewinn für die Öffentlichkeit zieht? Und wie viel kostet es wirklich, sich bei der Erarbeitung der Forschungsfrage und der Konzeptentwicklung zu fragen, um welchen Teil des Ganzen es geht? Ob es sinnvoll wäre, andere Forschungsdisziplinen, zum Beispiel aus dem weiten Feld der Geistes- und Sozialwissenschaften, einzubeziehen? Welche Bedeutung die erstrebten Ergebnisse für wen in der Gesellschaft haben könnten? Ob geistiges Eigentum entsteht, das besser geschützt wird, und ob Institute für Normung mitmachen sollten?

Meine Antwort ist klar: EU – Forschungsfreiheit und Nähe zu Menschen immer, Marktnähe so weit wie möglich.


„Horizon Europe sollte ganzheitlich motivierte Forschung fördern, dabei jedoch zukünftige Szenarien betonen, anstatt unmittelbare Marktreife zu fordern.“ 

Björn Nagel ist Gründungsdirektor des Instituts für Systemarchitekturen in der Luftfahrt am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR).

Die Luftfahrtforschung ist durch starke interdisziplinäre Wechselwirkungen charakterisiert. Insbesondere das Erforschen von Schlüsseltechnologien erfordert daher die Betrachtung des Systems mit seinen Wechselwirkungen und realistischen Randbedingungen. Nur so lässt sich bewerten, inwieweit die erforschten Technologien einen Beitrag dazu leisten, die teilweise widersprüchlichen gesellschaftlichen Herausforderungen zu lösen – etwa kostengünstige Mobilität bereitzustellen und zugleich Umweltwirkungen zu vermeiden.

Das Rahmenprogramm der EU bietet einzigartige Möglichkeiten, die für diese systemische Forschung notwendige Expertise aus Industrie und Forschung zusammenzubringen. Vielfältige Herangehensweisen und Perspektiven der Partner begünstigen innovative Lösungen. Außerdem ermöglicht es dieser große Rahmen, mehrere Technologien in Kombination miteinander zu erforschen und synergetische Lösungen auf Ebene des Gesamtsystems zu entwickeln. Anwendungs- und marktnahe Betrachtungen können dabei ganz grundlegende Forschung erfordern und stehen mit dieser nicht im Widerspruch.

Wichtig ist es aber, die unterschiedlichen Zeitrahmen im Blick zu behalten: Im Gegensatz zur Entwicklung soll die Forschung neue Technologien nicht für morgen, sondern für übermorgen liefern. Dieser lange Zeithorizont der Forschung ist nur bedingt kompatibel mit der industriellen Planung, die, getrieben durch die Entwicklungen des Marktes, relativ kurzfristigen Änderungen unterworfen sein kann. Horizon Europe sollte dem Rechnung tragen und ganzheitlich motivierte Forschung fördern, dabei jedoch zukünftige Szenarien betonen, anstatt unmittelbare Marktreife zu fordern. 

Und noch einen Aspekt halte ich für wichtig: Das in der öffentlich geförderten Forschung erarbeitete Wissen sollte nicht bei nur wenigen verbleiben, sondern möglichst öffentlich zugänglich gemacht werden; so, wie es die Open-Science-Strategie der EU fordert. Dadurch wird die Basis für innovative Produkte und Dienstleistungen gelegt – und damit auch für neue Geschäftsmodelle.

In Bezug auf Budgets und eigenständige Governance sollte die EU-Forschungsförderung ausbalanciert sein für beide Aspekte: zum einen große Experimente wie beispielsweise die Flugversuche im Clean-Sky-Programm der EU mit notwendiger Anwendungsnähe. Und zum anderen Grundlagenforschung und Zukunftsthemen wie die Verwendung von künstlicher Intelligenz in digitalen Entwurfsprozessen. 


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