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Portrait

Pionierin der Algorithmen

Die Informatikerin Prof. Dr. Dorothea Wagner. Bild: KIT

Als Informatikerin hat Dorothea Wagner an den Grundlagen von Navigationsgeräten mitgearbeitet, als Forscherin ist sie hochdekoriert – jetzt will sie als neu gewählte Präsidentin des Wissenschaftsrats die Digitalisierung der Wissenschaft vorantreiben.

Ein bisschen wirkt die Wahl des Ortes wie ein Anachronismus, und Dorothea Wagner fällt es in dem Moment auf, in dem sie darüber erzählt. In den Bergen trifft sich ihre Arbeitsgruppe für das nächste Klausurtreffen, das Team hat sich dafür eingemietet in der Tagungsstätte der papierverarbeitenden Industrie – ausgerechnet: Die Informatikerin und die Papierhersteller; die Erforscherin von Algorithmen der Zukunft und eine der ältesten Kulturtechniken der Welt, hier prallen sie aufeinander. „Der Ort ist großartig, mitten im Schwarzwald. Wir fahren da seit Jahren regelmäßig hin“, sagt Dorothea Wagner schmunzelnd.

Seit 17 Jahren forscht sie schon am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), aber wenn sie redet, klingt immer noch ein schwacher rheinischer Tonfall mit – „das Überbleibsel von zwölf Jahren an der RWTH Aachen“, sagt sie selbst. Im Badischen fühlt sich die 62-Jährige pudelwohl, und die Klausurtagung im Schwarzwald hält sie mindestens einmal, meistens zweimal im Jahr ab. Diese Treffen ihrer ganzen Arbeitsgruppe sind ein wichtiges Element ihrer Forschung. „Wir Informatiker sind gewohnt, mit komplexen Systemen und Fragestellungen umzugehen, und wir haben dazu eine Methode: Divide and Conquer“, erklärte sie unlängst in einem Interview. Probleme werden kurzerhand in kleine Teilaspekte zerstückelt, die sich einzeln bearbeiten lassen – und bei den Tagungen im Schwarzwald werden die kleinen Mosaiksteinchen wieder zu einem großen Ganzen zusammengesetzt.

Es ist genau diese Methode, die Dorothea Wagner dabei geholfen hat, zu einer der einflussreichsten Frauen in der deutschen Wissenschaft aufzusteigen: Seit wenigen Wochen ist sie Vorsitzende des Wissenschaftsrats, der Bund und Länder berät. Vorher war sie schon im Auswahlausschuss der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, sie war DFG-Vizepräsidentin und hatte zahlreiche weitere Ämter inne. „Jede Station hat meinen Blick zusätzlich geweitet“, sagt sie im Rückblick – „deshalb erscheint mir mein Amt als Vorsitzende des Wissenschaftsrats als konsequenter nächster Schritt.“

„Auf vielen Felder wartet die Politik förmlich auf unsere Einschätzungen!“

Wie die Arbeit dort hinter den Kulissen abläuft, weiß Wagner aus eigener Anschauung – fünf Jahre lang schon ist sie Mitglied des Wissenschaftsrats, war an vielen Papieren beteiligt. „Ich habe gemerkt, dass unsere Empfehlungen sehr wohl Wirkungen zeigen“, bilanziert sie: „Auf vielen Felder wartet die Politik förmlich auf unsere Einschätzungen!“ Dorothea Wagner ist es aus ihrer Forschung gewohnt, dass ihre Ergebnisse binnen kürzester Zeit in die Praxis umgesetzt werden. Das Gleiche erhofft sie sich von ihrem neuen Ehrenamt, für das sie am KIT von der Lehre freigestellt wird: Die Digitalisierung der Wissenschaft ist das große Thema, dem sie sich in ihrer Amtszeit schwerpunktmäßig widmen möchte – und zwar vor allem auf drei Gebieten. Erstens soll es um den Wandel der Wissenschaft angesichts datenintensiver Forschung gehen, zweitens um das Thema Open Access und die Folgen für die Finanzierung wissenschaftlicher Publikationen, und drittens um die Digitalisierung in der Hochschullehre.

Von Karlsruhe ist es eine dreistündige Zugfahrt zum Ausgangspunkt ihrer Forschung: In Aachen studierte sie in den frühen 1980er-Jahren Informatik – zwar eine untypische Wahl für eine Frau ihrer Generation, aber für ihre Familie nicht weiter überraschend. „Mein Vater war Gymnasiallehrer für Physik, Chemie und Biologie“, sagt sie im Rückblick auf ihr Elternhaus in Trier, „und meine drei Geschwister sind alle Naturwissenschaftler geworden, sie haben Mathematik, Physik und Geologie studiert.“ Sie also schrieb sich für Informatik und Mathematik ein und drang nicht zuletzt mit ihrer Habilitation tief in die Welt der Algorithmen vor. Auf jenes Thema, mit dem sie den Grundstein für ihre bahnbrechenden Erkenntnisse legen sollte, kam sie durch Zufall: Sie begann eine Kooperation mit der Deutschen Bahn, bei der es um die Qualität der Fahrplandaten ging. Dorothea Wagner fand es aber interessanter, sich an einem Vorläufer des heutigen DB-Navigators zu messen – also einem System, das Bahnverbindungen von einem Ort zu einem anderen heraussucht. „Das gab es damals zwar schon, aber wer dort eine Verbindung angezeigt bekam, hatte keine Garantie, dass es auch die bestmögliche Verbindung ist“, sagt Wagner. Das wurmte die Nachwuchswissenschaftlerin, und so krempelte sie die Ärmel hoch, um ein System zu entwickeln, das zuverlässig den idealen Weg ermittelt.

Ein Außenseiterthema war es damals, gut 20 Jahre liegt das jetzt zurück, und nicht einmal Dorothea Wagner ahnte, dass sich daraus einer der relevantesten Bereiche in der Algorithmenforschung entwickeln sollte. Die Verfahren, die sie entwickelte, ließen sich schließlich auch für Routenplaner in Autos und Navigationssysteme verwenden. „Am Anfang haben wir die Fragestellungen stark vereinfacht. Aber nach sechs oder sieben Jahren hatten wir Verfahren entwickelt, die auch praktikabel waren.“ Nach und nach brachte ihr diese Arbeit etliche hochkarätige Auszeichnungen ein, zuletzt die Konrad-Zuse-Medaille, den renommiertesten Preis in der deutschen Informatik.

Wie sehr sie mit ihrer Forschung den Nerv getroffen hat, merkt Dorothea Wagner aber nicht nur an Auszeichnungen, sondern vor allem an ihren Absolventen: Etliche von ihnen arbeiten inzwischen im Silicon Valley, sind bei Apple und Google an führenden Stellen mit der Weiterentwicklung der Navigations-Apps beschäftigt. „Ich kann nur schätzen, wie viel von unserer Arbeit diesen Programmen zugrunde liegt, die Unternehmen veröffentlichen ihre Algorithmen ja nicht“, sagt Wagner – genauer möchte sie nicht werden.

Derzeit arbeiten in ihrem Team 15 Doktoranden mit. Jeder packt von einem anderen Ende an den gemeinsamen Themen an; ganz nach dem Motto „Divide and Conquer“. Dorothea Wagner selbst allerdings wird in den nächsten Jahren den freitäglichen Jour fixe, der die alljährlichen Klausurtagungen ergänzt, öfters schwänzen müssen, obwohl er ihr eigentlich heilig ist: Als Vorsitzende des Wissenschaftsrats wird sie noch öfter unterwegs sein als ohnehin schon. Zum Sitz der Geschäftsstelle des Wissenschaftsrats in Köln ist die Reiserei auf Tagesbasis zu schaffen, hat sie mit kundigem Blick in den Bahn-Navigator längst festgestellt, aber noch lieber als nach Norden fährt sie von Karlsruhe aus ohnehin in den Süden: Dort ist der Schwarzwald, in den sie oft zum Wandern fährt, und dort liegt auch Zürich mit jener Universität, an der ihr Partner forscht – auch er ein Informatiker.

Dass ihre Reisen oft aber weit über Europa hinausführen, wird in ihrem Büro ebenfalls deutlich. Im Bücherregal stapeln sich Mitbringsel aus China und Indien – „die sind kitschig, aber irgendwie bringe ich es nicht übers Herz, sie wegzuwerfen“, sagt sie achselzuckend. Und dann greift sie ihr Lieblingsexemplar heraus: Eine Holzdose ist es, die als Stiftehalter gedacht ist; auf die einen Seite ist die Plakette einer indischen Universität angebracht, auf der anderen Seite ist eine Uhr montiert. Sie steht exakt auf viertel nach neun, seit drei Jahren schon, und ist damit ein Unikat in der Welt von Dorothea Wagner: Das Stehenbleiben ist ihr ansonsten grundlegend fremd.

Der Wissenschaftsrat

Der Wissenschaftsrat berät die Bundesregierung und die Regierungen der Länder in allen Fragen der inhaltlichen und strukturellen Entwicklung der Wissenschaft, der Forschung und des Hochschulbereichs und setzt sich zusammen aus Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die der Bundespräsident beruft, und hochkarätige Wissenschaftlern. 

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