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Kommentar

Nachlese zur Europawahl

Bild: Fotolia

Welche Folgen haben die Ergebnisse der Europawahl für Wissenschaft und Forschung? Ein Kommentar von Annika Thies – Leiterin des Helmholtz-Büros Brüssel.

 „Dieses Mal wähle ich! – This time I’m voting“ – so lautete der Slogan der Kampagne der Europäischen Institutionen. Nicht nur das Europaparlament, auch die Europäische Kommission warb um Wahlbeteiligung. Nicht zuletzt in der Hoffnung ein zu starkes Abschneiden extrem rechter Parteien zu verhindern. (Und tatsächlich gaben dieses Mal 50,95 Prozent der rund 400 Millionen Wahlberichtigten in den EU-Mitgliedstaaten ihre Stimme ab. Es ist zunächst sehr erfreulich, dass die Wahlbeteiligung gestiegen ist (2014 lag sie bei rund 42 Prozent). Ein Erfolg der Kampagne #thistimeimvoting? Ein größeres Bewusstsein bei den Bürgerinnen und Bürgern dafür, dass Europa uns alle angeht? Mag sein, doch dies gilt nicht für alle Staaten. Bereits ein Blick auf die Wahlbeteiligung zeigt, wie gespalten Europa ist: In Deutschland lag sie bei über 60 Prozent. In der Slowakei wollten nur gut 20 Prozent ihre Stimme abgeben, in Tschechien und Slowenien waren es jeweils rund 28 Prozent. 

Inhaltlich stellen nicht wenige die Europäische Union – oder ist es die europäische Idee selbst? – zunehmend in Frage: Aus Deutschland werden voraussichtlich elf Abgeordnete ins Europaparlament einziehen, die einer Partei angehören, die in ihrem Europawahlprogramm die Abschaffung des Europäischen Parlamentes fordert. Und mit Italien und Frankreich stehen nun in zwei der sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (der Vorläufer der Europäischen Union) die Europawahl-Gewinner sehr weit rechts und sind sehr EU-skeptisch. Da tröstet es nur bedingt, dass die Partei von Marine Le Pen das Ergebnis der letzten Wahlen nicht ganz halten konnte und wohl einen Sitz abgeben muss. Gleichzeitig verlieren Christ- und Sozialdemokraten zum ersten Mal ihre Mehrheit im Europaparlament. Vor allem die liberale Fraktion gewinnt hinzu, aber auch die Grünen werden mehr Sitze haben, genauso wie die rechten Fraktionen EFDD und ENF. 

Was bedeutet all das für die Forschung? Klar ist: In Anbetracht der Sitzverteilung wird es für die Abgeordneten schwieriger werden, in Zukunft zu stabilen und konstruktiven Mehrheiten zu kommen. Dies gilt auch für die im Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie (ITRE) zu behandelnden Forschungsthemen, da die Ausschüsse proportional zu den Fraktionsgrößen besetzt werden. Wie werden also die Diskussionen zur Energie- oder gar zur Klimaforschung in einem Ausschuss verlaufen, wenn mehr Abgeordnete - entgegen aller Fachexpertise aus der Wissenschaft - der Auffassung sind, dass der Mensch keinen Einfluss auf den Klimawandel hätte?

Für die Verhandlungen der Inhalte des nächsten EU-Programms für Forschung und Innovation, „Horizon Europe“, lässt sich trotz allem Kontinuität erhoffen. Es ist üblich, dass Berichterstatter, also die Verhandlungsführer des Europaparlaments, ihre Zuständigkeit über das Ende einer Legislaturperiode hinaus behalten. Und die Berichterstatter für Horizon Europe – Dan Nica (Rumänien, S&D) für die Verordnung und Christian Ehler (Deutschland, EVP) für das Spezifische Programm – ziehen beide erneut ins Europaparlament ein. Es wäre derzeit auch nicht absehbar, dass sich – wie teils vor der Wahl befürchtet – Mehrheiten finden werden, die die bereits erzielten Verhandlungserfolge zu Horizon Europe komplett ablehnen würden. Fraglich ist jedoch, ob auch das zukünftige Parlament so selbstbewusst mit einer Forderung von 120 Milliarden Euro für Horizon Europe in die künftigen Budgetverhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen eintreten wird, wie es derzeit der Fall ist. Bisher war die Position des Parlaments hierzu eindeutig, auch über Fraktionsgrenzen hinweg. Dennoch könnte es sein, dass europaskeptischen Parteien das Erfolgsmodell der europäischen Zusammenarbeit in der Forschung in Frage stellen.

Für die Forschung wichtig ist auch, wer im Herbst zur neuen EU-Forschungskommissarin oder -Kommissar wird. Diese Frage steht scheinbar auf einem ganz anderen Blatt und hängt doch mit den aktuellen Wahlen zusammen: Die/der künftige Präsident/in der EU-Kommission wird im Herbst durch das Parlament gewählt. Das Vorschlagsrecht liegt zwar beim Rat, also bei den Regierungen der Mitgliedstaaten, doch um die Rolle des Parlaments zu stärken, wollen die meisten der europäischen Parteienfamilien wie schon 2014 einen der von ihnen aufgestellten Spitzenkandidaten wählen. Und auch zwischen Parlament und Rat werden zähe Verhandlungen erwartet. Verhandlungen, die sich auch auf das weitere Personalkarussell rund um die EU-Kommissare auswirken werden. Darüber jedoch an anderer Stelle mehr.

Um Europa zu gestalten, braucht es eine starke, pro-europäische Haltung im Europaparlament und Abgeordnete, die konstruktiv über Grenzen verschiedenster Art hinweg zusammenarbeiten können und wollen. Wie es in der europäischen Forschungscommunity übrigens der Fall ist. Dem Europaparlament ist zu wünschen, dass es nun schnell arbeitsfähig wird und sich der wichtigen Aufgaben annimmt, die Europa zu bewältigen hat. Denn es geht für uns Europäerinnen und Europäer um noch weit mehr als um Forschung.

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