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Serie: Gründerportrait

Von Superhelden lernen

<b>Algen für den Leichtbau</b> Wiessenschaftler des Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) nehmen sich die Strukturen der Kieselalge als Vorbild. Foto: AWI

Bei dem ELiSE-Verfahren nehmen sich die Wissenschaftler und Ingenieure um Christian Hamm die Natur als Vorbild und schaffen Bauteile auf völlig neue Weise.

Die Kieselalge ist ein Superheld. In Millionen von Jahren hat sie sich durch die Evolution so weit entwickelt, bis die rund 100.000 Arten zwei begehrte Eigenschaften in sich vereinen. Sie sind sehr leicht, da sie Sonnenlicht brauchen und deshalb im Wasser nicht zu tief sinken dürfen. Gleichzeitig sind sie sehr stabil, um sich vor ihren Fressfeinden zu schützen. Eine solche Struktur – hätte sie die Größe eines Autos – wäre so stark, dass man 4000 andere Autos darauf stapeln könnte.

Als Christian Hamm das herausfand, war er begeistert. Hamm arbeitet seit seiner Promotion über Biomechanik am Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Er forscht zu Kleinstlebewesen und ihren natürlichen Eigenschaften. In seiner Post-Doc Zeit kam ihm die Idee, dass man deren erstaunliche Strukturen auch für die Technik nutzen könnte. Rund zehn Jahre vergingen, bis aus der Idee ein Verfahren wurde, das die Bauprinzipien der Natur in den Leichtbau überträgt.

Das ELiSE-Verfahren unterteilt sich in mehrere Schritte: Bauteilanalyse, Screeing, Entwürfe, Optimierung, Produkt.

Es heißt “Evolutionary Light Structure Engineering”, kurz: ELiSE. Mit diesem Verfahren arbeitet am AWI ein schlagkräftiges Team aus Ingenieuren, Bionikern und Biologen. Statt Bauteile einfach nur zu optimieren, denkt das multidisziplinäre Team sie völlig neu. Das ELiSE-Verfahren folgt einem festen Ablauf. Zuerst muss das Team sehr genau verstehen, wie das Produkt des Kunden funktioniert, damit sie es optimieren können: Etwa die Strebe hinter der Fahrertür eines Autos. Dann wird gemeinsam mit dem Kunden analysiert, welche Kräfte auf sie wirken, wie sie wirken und von wo.

Der nächste Schritt ist das Screeningverfahren: In einer Datenbank suchen sie nach biologischen Strukturen, die die gewünschten Eigenschaften für genau diese Anforderungen mitbringen. Das Alfred-Wegner-Institut bietet ihnen reichlich Anschauungsmaterial. Hier gibt es eine wissenschaftliche Sammlung mit mehr als 100.000 Präparaten von Planktonorganismen, die ständig aktualisiert wird. Haben sie ein erfolgsversprechendes Vorbild gefunden, entwickeln sie davon ausgehend verschiedene Designentwürfe für den Kunden. Die Struktur wird vereinfacht, die besten Elemente werden übernommen.

Im letzten Schritt verändern sie einzelne Parameter weiter, machen sie beispielsweise dicker oder dünner. „Wir spielen Evolution“, sagt Christian Hamm. Im Computer simulieren sie, ob ihr Produkt den Anforderungen standhalten würde. Dabei berücksichtigen sie auch, dass sich das Produkt gut und kostengünstig herstellen lassen muss. Für die Strebe haben sie ein neues Blech entwickelt, das sehr dünn und leicht ist, aber seine Stabilität aus einer Faserverbundstruktur im Inneren gewinnt – genau wie die Kieselalge.

„Die Industrie will kurzfristige, schnell zu produzierende Lösungen“, sagt Hamm. „Unsere Lösungen sind oft ungewöhnlich und komplizierter.“ Dass sie gerade deshalb besser sein können, muss sein Team jedes Mal erst beweisen. 13 Personen arbeiten derzeit für ELiSE, einige in Teilzeit, andere parallel zu ihrem Studium. Aktuell werden die Leichtbaulösungen am AWI entwickelt, mittelfristig ist aber auch eine Ausgründung realistisch. Um sich eigenständig auf dem Markt behaupten zu können, bräuchten sie jedoch mehr Mitarbeiter. Vor allem sehr gute Ingenieure sind jedoch auf dem Arbeitsmarkt begehrt. „Wir konkurrieren mit der Industrie um die Mitarbeiter, die höhere Löhne bezahlen kann als der öffentliche Dienst“, sagt Christian Hamm.

Trotzdem erhalten sie immer häufiger Aufträge von verschiedenen Industrieunternehmen. So haben sie diverse Bauteile für die Automobilindustrie, aber auch Rennjachten sowie Haushaltsgeräte wie Staubsauger und Waschmaschinen optimiert. Für ein Windrad im Meer konnten sie einen 50 Meter hohen Sockel entwickeln, der fast 50 Prozent leichter war als sein herkömmlicher Vorgänger. Mit dem Bionic Bike haben sie das leichteste Aluminium-Faltrad der Welt entwickelt, dessen Rahmen nur noch rund zwei Kilogramm wiegt. Gerade erst wurde es auf der „Woche der Umwelt“ im Schlosspark Bellevue vorgestellt. Bionik kommt bei den Kunden an. „Was sich systematisch und seriös an der Natur orientiert, ist effizient und ästhetisch und lässt sich gut vermarkten“, sagt Christian Hamm.

Bislang ist vor allem die Automobilindustrie ein interessanter Markt für das ELiSE-Verfahren, da dort Leichtbau besonders gefragt ist. In Zukunft werden sie aber auch für die Luftfahrt oder den Schiffbau weitere Lösungen entwickeln.

Das ELiSE-Team wirbt viel für das Verfahren, schreibt Unternehmen an, fährt auf Messen und muss gleichzeitig darauf achten, die Forschung nicht zu vernachlässigen. Etwa 50 Prozent seiner Zeit investiert Hamm für das ELiSE-Verfahren. Allerdings entwickelt er mit dem AWI auch weitere Strategien für den Technologie-Transfer, damit weitere Ergebnisse seiner Forschung später in Industrie-Produkte einfließen werden.

Die Zukunft für das ELiSE-Verfahren sieht sehr gut aus, glaubt Christian Hamm. Über die Baupläne der Natur sagt er: „Wir haben bisher nur einen Bruchteil verstanden.“ Entsprechend groß ist das Reservoir an unentdeckten Möglichkeiten. Derzeit untersucht sein Team die Nanostrukturen der Kieselalgen, weil nicht nur deren Geometrie, sondern auch das Material hocheffizient ist. Aufgrund des speziellen Aufbaus hat das leichte Silikat eine höhere Festigkeit als hochfester Stahl. „Das ist so raffiniert, davon versprechen wir uns viel“, sagt Hamm. Wenn es gelänge, dieses Material nachzuahmen, könnte man zum Beispiel bruchfeste Handydisplays bauen, die sich biegen lassen. Oder Gebäude, die man sich jetzt noch gar nicht vorstellen kann.

Mit dem Instrument Helmholtz Enterprise unterstützt die Helmholtz-Gemeinschaft seit nunmehr zehn Jahren gezielt Ausgründungen aus den Zentren. In dieser Serie stellen wir Unternehmen vor, die in dieser Zeit von dem Instrument profitieren konnten.

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