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Wissenschaft mit Behinderung

Auf die aktive Förderung kommt es an

Wissenschaftskarriere mit Behinderung – geht das? Natürlich geht das! Doch allein schon die Frage zeigt: Menschen mit Beeinträchtigungen sind in der Wissenschaft kaum sichtbar und oft Vorbehalten ausgesetzt. Dabei braucht es vor allem zwei Dinge: mehr Sichtbarkeit und eine aktive Förderung von Karrieren.

Wie kann eine wissenschaftliche Karriere mit Behinderung gelingen? Und wo liegen die Grenzen? Diese Fragen standen im Fokus einer Podiumsdiskussion, zu der das Helmholtz Network for Diversity, Equity & Inclusion am 5. Mai 2023 eingeladen hatte. Behinderungen in der Wissenschaft sind ein Thema, das immer noch unter dem Radar läuft. So erläutert Jana Bauer, Moderatorin der Veranstaltung, die zu Inklusion in der Wissenschaft forscht: Es gibt weder genaue Daten über Promovierende mit Behinderung noch ein ausreichendes Bewusstsein oder unterstützende Strukturen an den meisten wissenschaftlichen Einrichtungen. „Wir haben eine Umsetzungs- und eine Forschungslücke“, stellt sie fest.

Kaum Daten über Forschen mit Behinderung

Die wenigen Daten, die vorliegen, stammen aus einer Umfrage des Deutschen Studierendenwerks. Demnach haben elf Prozent der Studierenden eine Behinderung, 96 Prozent davon sind auf den ersten Blick nicht sichtbar. Menschen mit Beeinträchtigungen sind also unter uns, aber wir nehmen sie nicht wahr. Einer davon ist Mohammad Rahbari, der seine Erfahrungen bei der Podiumsdiskussion teilt. Er ist in der klinischen Forschung am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) tätig. Seine chronische Erkrankung hat er lange mit sich selbst ausgetragen. „Ich wollte mir nicht eingestehen, dass ich dadurch in meiner Facharztweiterbildung für Viszeralchirurgie beeinträchtig bin. Wissenschaft ist hoch kompetitiv und der Druck ist immens – insbesondere im Rahmen der Vereinbarkeit von klinischer und wissenschaftlicher Tätigkeit.“ Um seine Gesundheit nicht zu gefährden, zog er die Reißleine und gab seine Facharztausbildung als Chirurg auf. „Es ging einfach nicht mehr.“ Auch wenn er seine Karriere nicht wie ursprünglich geplant fortsetzen konnte, ist er froh, dass sich für ihn eine Alternative aufgetan hat. Deshalb sei es wichtig, von Idealvorstellungen abzurücken und den individuell machbaren Weg zu wählen, meint er.

Sich Unterstützung zu suchen ist wichtig

Ann-Christin Dippel vom Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY) hat ähnliche Erfahrungen gemacht: Die Forscherin führt Experimente mit Röntgenstrahlung durch und betreut Messgäste aus dem In- und Ausland. Durch ihre voranschreitende Sehbehinderung stößt sie dabei jedoch immer wieder an Grenzen: Auf Konferenzen kann sie nicht mal eben auf andere Menschen zugehen und sich vernetzen. In Gesprächen fehlt ihr oft die wichtige non-verbale Kommunikation. Auch Dienstreisen stellen sie vor große Herausforderungen. „Ich habe eine Arbeitsassistenz, die mich dabei begleiten kann.“ Dafür wurde ein Präzedenzfall beim Integrationsamt geschaffen, denn vorher gab es noch keine Anfrage für diese Art der Unterstützung. Zwar gibt es viele Förderungen, doch es ist oft ein Dschungel, wer zuständig ist. „Man braucht viel Kraft, sich Unterstützung zu organisieren, aber am Ende hat es bei mir immer geklappt“, macht sie Mut. Mit ihrer beruflichen Situation ist sie zufrieden, obwohl sie wegen ihrer Behinderung nicht alle Wege einschlagen konnte und sich beispielsweise gegen eine Habilitation entschied. Dennoch hat sie überwiegend positive Erfahrungen gemacht und rät, offen mit einer Behinderung im Arbeitsumfeld umzugehen. „Wenn ich darüber spreche, nimmt es dem Gegenüber oft die Scheu“, erzählt sie.

Bild: Forschungszentrum Jülich

Wie offen sollte man mit der eigenen Beeinträchtigung umgehen?

Der offene Umgang mit ihrer Krankheit ist auch Sarah Glenz, Doktorandin in der Tumorimmunologie am DKFZ, sehr wichtig. Wegen ihrer Migräneattacken fällt sie mehrere Tage im Monat aus. Während des Studiums, so berichtet sie, seien es sogar bis zu 24 Tage pro Monat gewesen, an denen sie nicht zur Uni gehen konnte. Die Inhalte lernte sie überwiegend im Selbststudium, immer dann, wenn ihre Gesundheit es zuließ. Als Praktikantin kam sie ans DKFZ, schrieb dort ihre Masterarbeit und blieb auch für die Promotion in der Gruppe. „Mein Umfeld war extrem unterstützend“, erzählt sie. Klar wird: Auch Sarah Glenz wäre ohne das Verständnis ihres Teams nicht dort, wo sie heute steht. Vor einer Woche hat sie ihre Doktorarbeit abgegeben – nach vorbildlichen 3,5 Jahren. Trotz der Einschränkungen durch die Migräneattacken ist es ihr gelungen, sich zu fokussieren und dem Leistungs- und Zeitdruck standzuhalten.

Wenn wir ehrlich sind: Wer würde das einer Person mit Migräne zutrauen? Und genau das offenbart, weswegen es Menschen so schwerfällt, offen über die eigene Beeinträchtigung zu sprechen: Oft gibt es Vorurteile, dass Menschen mit Behinderungen weniger effektiv arbeiteten. Das führt dazu, dass andere Menschen im Zweifelsfall den Job oder eine Beförderung bekommen. Deshalb kreist die Podiumsdiskussion immer wieder um die Frage: Was ist der richtige Umgang mit einer Beeinträchtigung? Es gebe keine eindeutige Antwort, stellt Mohammad Rahbari fest: „Ich weiß bis heute nicht, wann es angebracht ist, über meine Behinderung zu sprechen.“ Eigentlich wolle er keine Sonderbehandlung, doch oft gehe es nicht ohne.

Diese Ansicht unterstützt auch Jörg Konheiser, Wissenschaftler in der Reaktorsicherheit am Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf (HZDR), der ohne seine Hörgeräte nahezu gehörlos ist. „Ich gehe mit meiner Beeinträchtigung nicht hausieren, aber wenn es notwendig ist, spreche ich darüber“, erzählt er. Wenn Menschen leise oder durcheinander sprechen, kann er nicht folgen. „Dann sage ich das offen.“ Bisher sei er damit gut durchs Berufsleben gekommen, die Behinderung habe ihn nicht in seiner Laufbahn beeinträchtigt. Damit zeigt sich: Wie jemand mit einer Behinderung umgeht, ist so individuell wie die Einschränkungen an sich. Ein Patentrezept gibt es nicht.

Glück sollte nicht über eine Karriere in der Wissenschaft entscheiden   

Im Laufe der Podiumsdiskussion fällt immer wieder dieser eine Satz: „Ich habe Glück gehabt mit meinem Umfeld“. Dass die Teilnehmenden der Podiums­diskussion heute noch in der Wissenschaft arbeiten, liegt daran, dass sie aktive Förderung erfahren haben. Die Kehrseite der Medaille ist: Wer diese nicht hatte, ist nicht mehr dabei – und sitzt deshalb nicht auf diesem Podium.

Deshalb brauche es mehr systematische Unterstützung und eine Organisationskultur, die Vielfalt verankert, fordert Otmar D. Wiestler, Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft. Er bringt es gleich zu Beginn der Podiumsdiskussion auf den Punkt: „Wir alle haben Begabungen, wir alle haben Einschränkungen. Das macht unsere Einzigartigkeit aus. Gerade die Wissenschaft profitiert enorm von Vielfalt und Diversität der Menschen.“ Er betont, dass dies eine Aufgabe für die ganze Helmholtz-Gemeinschaft ist: „Inklusion muss von uns allen erarbeitet und gelebt werden.“  

Damit liegt er ganz auf der Linie mit dem Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft von Schwerbehindertenvertretungen in der Forschung (AGSV.F), Jörg Muskatewitz, der ebenfalls an der Podiumsdiskussion teilgenommen hat. In seinem Schlusswort gibt er den Zuhörer*innen mit auf den Weg: „Wissenschaftliche Karrieren können nur durch barrierefreie und vorurteilsfreie Arbeitsumgebungen gelingen. Fangen wir also jetzt damit an!“­

Auf dem Podium

Jörg Konheiser, Wissenschaftler in der Reaktorsicherheit, HZDR ∙ Sarah Glenz, M.Sc.,  Doktorandin in der Tumorimmunologie, DKFZ ∙ Dr. Ann-Christin Dippel, Beamline-Wissenschaftlerin, DESY ∙ Dr. Mohammad Rahbari, Klinischer Wissenschaftler, DKFZ ∙ Jörg Muskatewitz, M.A. (Vorsitzender der AGSV.F)

Transparenzhinweis: Die Autorin ist Redakteurin und Diversity-Beauftragte des Helmholtz-Zentrum Berlin und Mitglied des Helmholtz-Network for Diversity, Equity and Inclusion.

Weiterführende Informationen: Promovieren mit Beeinträchtigungen

Das Webportal „PROMI – Promotion inklusive“ richtet sich an alle, die sich für das Thema Promovieren mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, Behinderungen sowie chronischen körperlichen oder psychischen Erkrankungen interessieren. Dort finden Sie Peers-Vernetzung, virtuelle Stammtische, aber auch praktische Hinweise für Promotionsbetreuende.

https://promi.uni-koeln.de/

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