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Epidemiologie

Wie gut waren die Modellrechnungen?

Bild: shutterstock

Der Physiker und Epidemiologe Michael Meyer-Hermann erklärt, wie gut Prognosen sein können und wie es mit COVID-19 weitergehen könnte.

Herr Meyer-Hermann, begeben wir uns auf eine kurze Zeitreise. Vor acht Wochen, Mitte April, lag die 7-Tage-Inzidenz in Deutschland bei mehr als 140 Fälle pro 100.000 Einwohner. Und viele Wissenschaftler warnten, das sei erst der Anfang. 7-Tage-Inzidenzen von mehr als 500, gar mehr als 1000 Fälle pro 100.000 Einwohnern standen im Raum. Heute, Ende Juni, ist die Lage entspannt, die 7-Tage-Inzidenz liegt bei nicht einmal 10 Fällen pro 100.000 Einwohnern. Was ist geschehen?

Die genannten Zahlen waren an Bedingungen geknüpft, sie stellen Wenn-Dann-Szenarien dar. Meist liegen statistische Berechnungen zugrunde, bei denen jeweils hochgerechnet wird, wie sich alles weiterentwickelt, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden und sich auch sonst nichts ändert, etwa am Verhalten der Menschen. Solche Szenarien lassen sich in statistischen Modellen recht sauber berechnen. Aber sie sind eben nur ein Szenario, nicht mehr und nicht weniger. 

Oft komt es dann doch anders, als man denkt. Es ändert sich ja derzeit ständig etwas, angefangen von den Lockdown-Maßnahmen über das Auftauchen und Verschwinden von Mutationen bis hin zu Verhaltensänderungen und dem Jahreszeitenwechsel. Offenbar scheint ein statistisches Modell dem nicht mehr gerecht zu werden.

Michael Meyer-Hermann leitet die Abteilung System-Immunologie am Braunschweig Integrated Centre of Systems Biology (BRICS), dem Forschungszentrum für Systembiologie des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung HZI und der Technischen Universität Braunschweig. Bild: anna.laclaque

Das stimmt, sie dienen eher als Orientierung, ob etwas unternommen werden sollte oder nicht. Besser für Zukunftsprognosen geeignet sind sogenannte mechanistische Modelle. Dabei versucht man, bekannte und vorhersagbare Mechanismen mit einzuberechnen. Etwa, dass Menschen sich bei bestimmten Wetterlagen anders verhalten oder dass sie im Supermarkt einen Mundschutz tragen, dass aber, wenn man ein ganz genaues Modell aufbauen würde, Menschen mit Bart weniger gut geschützt sind. All solche Mechanismen kann man in ein mechanistisches Modell einfließen lassen. Dazu braucht es vor allem dreierlei: Eine gewisse Intuition, was wichtig ist. Die Technik, die Mechanismen in das Modell einfließen zu lassen. Und Möglichkeiten und Kenntnisse, die Ergebnisse zu interpretieren.

Das klingt deutlich genauer als die eingangs erwähnten statistischen Hochrechnungen.

Das kann es auch sein – aber das Potenzial ist natürlich auch hier begrenzt. Seit Beginn der Pandemie habe ich viel mit mechanistischen Modellen gearbeitet. Allerdings war schon im April die Dynamik so groß, dass viele Muster und Mechanismen nicht oder nur begrenzt zutrafen. Daher habe ich mich mit Prognosen zurückgehalten.

Manche Kollegen haben das weniger getan. Später hieß es dann vereinzelt, nur weil man gewarnt habe, sei die Inzidenz auch abgefallen. Weil die Menschen alarmiert waren und strikter auf Abstand und Schutzmaßnahmen wie Mundschutz geachtet haben.

Dies kann durchaus eine Rolle gespielt haben, da ist unheimlich viel Psychologie drin. Aber man darf hier nicht zynisch werden, ich denke, kaum ein Kollege hat bewusst verschärfte Szenarien gewählt um die Menschen gewissermaßen zu manipulieren, damit sie vorsichtiger sind. Wissenschaftlern geht es normalerweise um Fakten, um Wissen und Nicht-Wissen. Angesichts des öffentlichen Drucks, konkrete Aussagen zu machen, kann es natürlich sein, dass hier an einzelnen Stellen jemand sich zu einer Prognose hinreißen hat lassen, die mit enorm viel Unsicherheiten behaftet war.

Das ist verständlich, aber womöglich ist es auch schädlich gewesen. Hat die Wissenschaft ihren guten Ruf verspielt?

Am Anfang war ich erstaunt, wir Wissenschaftler waren gefragt und wurden angehört, von der Politik, von den Medien, von der Gesellschaft. Aber im Laufe der Zeit haben die Verantwortlichen uns zwar weiter zugehört, aber leider waren sie häufig nicht konsequent genug, um ihre Erkenntnisse in Taten umzusetzen. Der dann nur mäßige Erfolg von den halbherzigen Maßnahmen hat natürlich auch dem Ruf der Wissenschaft geschadet.

Inwiefern?

Nun, manche Länder waren den Deutschen in Sachen Wellen und Inzidenzen einige Wochen und Monate voraus. Da konnte man bereits sehen, wie sich die Lage hier entwickeln würde, wenn nicht rechtzeitig heruntergefahren wird, darauf haben auch die beratenden Wissenschaftler hingewiesen. Einige Politiker haben sich in vielen Fällen unsere Aussagen angehört, und dann vielleicht knapp die Hälfte von dem gemacht, was wir empfohlen haben mit der Begründung, dass die Inzidenz ja noch nicht so hoch sei. Dabei ist nach mehr als einem Jahr Pandemie klar, dass man früh bremsen muss, bevor sich eine Dynamik aufbaut.

Nun scheinen die Maßnahmen, die viele Wissenschaftler ja vor wenigen Wochen als zu zögerlich kritisiert haben aber ausgereicht zu haben?

Betrachtet man den Winter insgesamt, waren die Maßnahmen nicht ausreichend, wir hatten hohe Inzidenz-Zahlen, durch konsequentere Maßnahmen hätte man sie deutlich niedriger halten können. Aktuell ist die Lage entspannt, ja, aber damit es so bleibt, sollte ein Großteil der aktuellen Maßnahmen beibehalten werden. Sonst kommen wir wieder in die Situation, dass wir lockern, weil die Inzidenzen niedrig sind, aber ausgerechnet durch das überzogene Lockern steigen die Zahlen wieder…

Sicher hat die Politik im Winter auch andere Aspekte berücksichtigt, etwa dass es für Kinder psychologisch und lerntechnisch nicht gut ist, derart lange nicht in die Schule gehen zu können. Und dass die Wirtschaft am Boden lag und durch die folgende Krise womöglich auch Existenzen zerstört werden.

Auch wenn ich eine Güterabwägung grundsätzlich für richtig halte, ist sie in diesem Falle kontraproduktiv. Man hätte sagen können: Der psychologische und wirtschaftliche Schaden ist groß, deshalb nimmt man eine etwas höhere Zahl an Todesfällen in Kauf. Das ist aber falsch, denn höhere Fallzahlen töten nicht nur Menschen sondern schaden langfristig auch der Wirtschaft und allen anderen Lebensbereichen. Wir haben in einer gemeinsamen Studie mit dem ifo-Institut gezeigt, dass Gesundheit und Wirtschaft ein gemeinsames Interesse an niedrigen Inzidenzen haben. Ich hatte den Eindruck, dass die Diskussionen um Güterabwägungen zu halbherzigen anstatt zu schnellen und klaren Entscheidungen geführt haben.

Aktuell sind die Inzidenzen ja sehr niedrig, hinzu kommt, dass bereits fast die Hälfte der Deutschen mindestens eine Dosis Impfstoff bekommen hat. Was waren Ihrer Meinung nach die entscheidenden Parameter, die das Blatt zum Positiven gewendet haben?

Das sind wieder eine Reihe von Faktoren. Die Impfungen spielen sicherlich eine tragende Rolle. Aber auch das vorsichtigere Verhalten der Menschen angesichts der hohen Inzidenz-Zahlen wirkte sich positiv aus. Und in jüngster Zeit ist natürlich auch das Wetter ein entschärfender Faktor, die Menschen treffen sich eher draußen als drinnen, was die Ansteckungswahrscheinlichkeit senkt.

Was glauben Sie, wie wird es weitergehen?

Heute liegt die Reproduktionszahl, also wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt, bei 0,7 bis 0,8. Das ist laut unserer Berechnungen in Kooperation mit dem ifo-Institut optimal, um die Pandemie unter Kontrolle halten und die Wirtschaft zu schützen. Wenn jetzt aber die Zahl der Kontakte nur um 50 Prozent steigt, etwa durch schnelle Öffnungsmaßnahmen, liegt die Inzidenzzahl wieder bei über 1 – und das wäre nicht wünschenswert, dann würde sich das Virus wieder ausbreiten.

Aber verhindert nicht die rasch wachsende Zahl der Geimpften eine Ausbreitung? Hat das Virus überhaupt noch eine Chance, wenn täglich mehr als 500.000 Menschen geimpft werden?

Die Impfungen sind eine starke Bremse für das Virus. Trotzdem werden die Impfungen nicht ausreichen, damit in ein paar Monaten alles wieder wie vor der Pandemie ist. Denn wenn wir annehmen, dass 70 bis 80 Prozent geimpft sind und der Schutz einer Impfung 90 Prozent beträgt, dann bräuchte man laut unserer Abschätzungen immer noch 50 Prozent Kontaktbeschränkungen, damit das Virus sich nicht wieder ausbreitet. Das wurde kürzlich auch von Forschern aus Oxford herausgefunden. Heißt, vereinfacht gesagt: Wir sollten nur halb so viele potenziell infektiöse Kontakte täglich haben wie vor der Pandemie. Hinzu kommt, dass die Kinder unter 12 Jahren ja noch nicht geimpft sind, wir müssen mit Schulausbrüchen rechnen, und diese Ausbrüche werden natürlich weiter getragen etwa an andere Nicht-Geimpfte. Und bei manchen neuen Varianten ist womöglich auch der Impfschutz geringer.

Das klingt, als würde es eine Normalität wie vor der Pandemie auf absehbare Zeit nicht geben.

Es ist sicher nicht verkehrt, gewisse Vorsichtsmaßnahmen auch auf Dauer beizubehalten. Dass man in öffentlichen Verkehrsmitteln einen Mundschutz trägt, ist zum Beispiel in manchen asiatischen Ländern seit Jahren gang und gäbe. Vielleicht sollten wir solche Dinge langsam nicht mehr als Last sehen, sondern als sinnvollen Beitrag zu einer Gesellschaft mit erhöhter gegenseitiger Achtsamkeit.

Abteilung System-Imunologie am Helmholtz-Zenrum für Infektionsforschung

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