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Krebsmedikament

Was ist dran am neuen Anti-Leukämie-Wirkstoff?

Bei Leukämiepatienten löst ein Gendefekt die übermäßige Produktion weißer Blutkörperchen aus. Bild: OKAPIA KG, Germany

In wenigen Monaten könnte ein Medikament auf den Markt kommen, das die Heilungschancen von Leukämiekranken erhöht. Der Durchbruch? Ein Gespräch mit Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

Forscher der Uniklinik in Würzburg haben eine neue Arznei zur Behandlung der akuten lymphatischen Leukämie (ALL) entwickelt und in Patientenstudien getestet. Die ALL ist eine der häufigsten Leukämieformen und wurde in den Jahren 2009/2010 bei knapp einem Zehntel aller Leukämie-Neuerkrankungen diagnostiziert. Blinatumomab, so der Name des Wirkstoffs, hat auf dem Weg zur Zulassung nun eine erste Hürde genommen: im Juli 2014 wurde er von der US-amerikanischen Arzneimittelzulassungsbehörde FDA für ein beschleunigtes Prüfverfahren zugelassen. Wolf-Dieter Ludwig, Chefarzt der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie am Helios Klinikum Berlin-Buch und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AdkÄ), erklärt das neue Wirkprinzip und spricht darüber, welchen Patienten das Medikament in Zukunft helfen könnte.

Herr Ludwig, der neue Arzneistoff Blinatumomab soll körpereigene Immunzellen aktivieren, um Krebszellen im Blut zu bekämpfen. Bildlich gesprochen bringt er den T-Zellen - Abwehrzellen des Immunsystems - bei, Leukämiezellen zu erkennen und zu bekämpfen. Was ist neu im Vergleich zu herkömmlichen Therapien?

Blinatumomab gehört zur Wirkstoffgruppe der monoklonalen Antikörper. Diese gentechnisch hergestellten Proteine setzt man schon seit einigen Jahren in der Krebstherapie ein, und sie haben durchaus die Heilungschancen verbessert. Bisherige Antikörper funktionieren so, dass sie ein Antigen, das heißt eine bestimmte Proteinstruktur auf Leukämie- oder Lymphomzellen, erkennen und diese Zellen dann durch körpereigene Immunmechanismen abtöten - ohne gezielt die T-Zellen zu involvieren. Für Blinatumomab wurde ein sogenannter bi-spezifischer Antikörper entwickelt. Er besteht aus zwei "Armen". Der eine erkennt die B-Lymphozyten: weiße Blutkörperchen, die bei einer Leukämie bösartig verändert sind. Ein zweiter Arm bringt T-Zellen an diese Krebszellen heran, indem er ein für die T-Zellen spezifisches Antigen erkennt. In dem Moment, in dem der Antikörper an das Antigen bindet, wird die T-Zelle aktiviert und setzt Zytokine frei. Diese Botenstoffe des Immunsystems sollen mithilfe anderer Immunzellen die Krebszellen zerstören. Das ist ein interessantes, neues Wirkprinzip, das schon seit einiger Zeit in der Grundlagenforschung getestet wird.

Für wie erfolgversprechend halten Sie den neuen Antikörper?

Bisher wurde lediglich eine kleine Anzahl von Patienten in unkontrollierten klinischen Studien behandelt. Zudem ist die Nachbeobachtungszeit dieser Patienten noch relativ kurz. Ich glaube für eine endgültige Beurteilung der Wirksamkeit, aber auch der Sicherheit reichen diese Daten nicht aus. Der Antikörper wurde Patienten mit einer akuten lymphatischen Leukämie (ALL) verabreicht, die auf eine Chemotherapie nicht ausreichend angesprochen haben und bei denen noch eine minimale Resterkrankung nachweisbar war. Das heißt, es waren noch Tumorzellen vorhanden, aber in einer relativ geringen Menge. Und in dieser Situation hatte der neuen Antikörper einen positiven Effekt.

Wolf-Dieter Ludwig ist Chefarzt der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie, HELIOS Klinikum Berlin-Buch, und seit 2007 Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ). Foto: axentis.de / Lopata

Kann man von Heilung sprechen?

Diese Frage können wir heute anhand der klinischen Studien noch nicht beantworten. Wir wissen aber, dass bei Patienten, die nach der Chemotherapie noch eine minimale Resterkrankung haben oder die einen Rückfall erleiden, durch die Behandlung mit Blinatumomab eine komplette Rückbildung der ALL erreicht werden kann. Diese Patienten können im Anschluss mit den Blutstammzellen eines Spenders behandelt und eventuell auch geheilt werden. Der Wirkstoff ermöglicht im Momemt also lediglich eine weitere Therapie, mit der man der Heilung ein Stück näher kommt.

Für wie viele Leukämie-Patienten käme diese Behandlung in Frage?

Das ist schwer zu sagen. Für Deutschland würde ich mit weniger als hundert Patienten rechnen, die derzeit in dieser speziellen Situation sind. Bei Erwachsenen kommt die ALL viel seltener vor als bei Kindern, aber bei Kindern ist sie heute glücklicherweise in 80 bis 90 Prozent der Fälle durch eine Chemotherapie heilbar.

Mit welchen Nebenwirkungen ist zu rechnen?

Der Körper reagiert auf die Aktivierung der T-Zellen vor allem mit Fieber, Schwäche und Müdigkeit. Man hat aber auch Reaktionen des zentralen Nervensystems bis hin zu Krampfanfällen beobachtet. Das sind natürlich erhebliche Belastungen. Lebensbedrohlich kann es werden, wenn als Nebenwirkung zu viele Zytokine freigesetzt werden, man spricht dann vom Zytokin-Freisetzungssyndrom. Deswegen ist es sehr wichtig, dass die Wirkung des Antikörpers an wesentlich mehr Patienten untersucht wird. Und dass man vernünftige Gegenmaßnahmen findet, um solche Nebenwirkungen zu verhindern oder sie gezielt zu behandeln.

Wie schätzen Sie die Chancen für die Zulassung des Wirkstoffs Blinatumomab ein?

Es handelt sich zweifelsfrei um ein neues, interessantes Wirkprinzip. Gerade bei Patienten mit ALL, die auf die Standardtherapie nicht ansprechen oder einen Rückfall der Erkrankung erleiden, haben wir nur wenige medikamentöse Alternativen. Für diese Situation kann ich mir vorstellen, dass Blinatumomab bald zugelassen wird - vor allem zur Reduktion der minimalen Resterkrankung und als Überbrückung zur Stammzelltherapie. Für einen breiten Einsatz bei ALL oder malignen Lymphomen benötigen wir vor Zulassung aber unbedingt weitere klinische Studien.

Wie ist der Stand des Zulassungsverfahrens?

Der Antikörper hat eine sogenannte "Breakthrough Therapy Designation" von der US-Zulassungsbehörde FDA bekommen. Das ist eine Klassifizierung, die es in den USA seit 2012 gibt. Sie gilt für Wirkstoffe, die gegen schwerwiegende Erkrankungen gerichtet sind und für die vorläufige klinische Daten einen Nutzen zeigen. Mit diesem "Stempel" sind die Zulassungsbedingungen deutlich erleichtert. Es könnte sein, dass Blinatumomab dadurch schneller auf den Markt kommt.

Wann könnte das geschehen?

Alle Medikamente, die in Deutschland auf den Markt kommen, werden von der Europäischen Arzneimittel-Agentur in London (European Medicines Agency, EMA) zugelassen. Ich könnte mir vorstellen, dass sich auch die EMA mit den vorliegenden Daten aus klinischen Studien zufrieden gibt, um damit der schwierigen klinischen Situation Rechnung zu tragen. Häufig wird dann von der EMA dem Hersteller die Auflage erteilt, innerhalb eines bestimmten Zeitraums nach der Zulassung weitere Daten vorzulegen, sowohl zur Wirksamkeit als auch zur Sicherheit. Über Zulassung und Auflagen entscheiden aber natürlich die wissenschaftlichen Gremien bei der EMA.

Lässt sich das neue Wirkprinzip auf die Therapie anderer Krebsformen übertragen?

Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Wir müssen davon ausgehen, dass die T-Zell-Aktivierung und die Empfindlichkeit der Krebszellen für die T-Zell-Aktivierung das Entscheidende sind. Und bei soliden Tumoren, etwa bei Darmkrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs oder Lungenkrebs, wissen wir nur sehr wenig darüber, ob der Tumor damit erreicht werden kann. Bei den hämatologischen Erkrankungen, also bei den Lymphknoten-Erkrankungen und der ALL, die ja im weitesten Sinne Erkrankungen unseres Immunsystems sind, sind die Aussichten derzeit günstiger. Wenn ich es mit zwei Worten beschreiben soll: Ich bin vorsichtig optimistisch.

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