Standpunkt
Tiefsee: Abtauchen mit Tiefgang, Weitsicht und Verantwortung

Prof. Dr. Sylvia Sander, Helmholtz Exzellenz-Professorin für Marine Mineralische Rohstoffe am GEOMAR Helmholtz Zentrum für Ozeanforschung Kiel, und Vorsitzende der European Marine Board Arbeitsgruppe Deep Sea and Ocean Health. Bild: GEOMAR
Klimawandel, Umweltverschmutzung und der zunehmende Zugriff auf marine Ressourcen gefährden zentrale Funktionen des Ökosystems. Meeresforscherin Sylvia Sander vom GEOMAR fordert, dringend Wissenslücken über die Tiefsee zu schließen und formuliert konkrete Empfehlungen.
Die Tiefsee ist der größte Lebensraum unseres Planeten und doch am wenigsten erforscht. Unterhalb von 200 Metern beginnt eine Welt, die 90 Prozent des Ozeanvolumens ausmacht und eine Vielzahl unbekannter Arten, einzigartiger Ökosysteme und unverzichtbarer Funktionen für das globale Klima und die menschliche Gesundheit beherbergt. Trotz ihrer Bedeutung bleibt die Tiefsee wissenschaftlich unterbelichtet und politisch unterrepräsentiert. Das muss sich ändern.
2025 markiert ein entscheidendes Jahr: Mit dem BBNJ-Abkommen (UN-Abkommen zur Biodiversität in Gebieten jenseits nationaler Hoheitsgewalt) liegt ein rechtlicher Rahmen auf dem Tisch, der nun mit Leben gefüllt werden muss. Wissenschaft und Politik müssen hier Hand in Hand gehen – national, europäisch und global.
Der kürzlich erschienene Future Science Brief des European Marine Board (EMB), einem Think Tank aus führenden Meeresforschungsinstituten und Stakeholdern, zeigt, wie dringend wir Wissenslücken über die Tiefsee schließen müssen. Auf Basis einer fundierten Bestandsaufnahme aktueller Forschungsdefizite formuliert er zehn Empfehlungen für Politik, Wissenschaft und internationale Zusammenarbeit.
Zu den zentralen Forderungen gehören der Aufbau langfristiger Monitoringprogramme in sensiblen Regionen, die Entwicklung standardisierter Umweltverträglichkeitsprüfungen für künftige Tiefseeaktivitäten und ein unabhängiges internationales wissenschaftliches Komitee für Tiefseeschutz. Weitere Empfehlungen sind gezielte Investitionen in kritische Forschungsfelder – etwa zur Rolle der biologischen Kohlenstoffpumpe, zur meridionalen Umwälzzirkulation oder zu den Auswirkungen menschlicher Einflüsse auf Tiefseeorganismen – sowie der globale Kapazitätsaufbau, unter anderem durch Technologietransfer und FAIR-Datenstandards. Für Deutschland und Europa bedeutet das: Wir brauchen klare politische Prioritäten und strategische Investitionen – in Forschung, Technologie, Ausbildung und internationale Zusammenarbeit. Die Helmholtz-Gemeinschaft, die mit dem Forschungsbereich Erde und Umwelt über herausragende Expertise verfügt, kann hier eine Führungsrolle einnehmen.
Wir dürfen nicht vergessen: Die Tiefsee ist nicht nur von Nutzen, sondern auch schützenswert – als eigenständiger Lebensraum und als integraler Bestandteil des globalen ökologischen Gleichgewichts. Ihr Schutz ist kein Widerspruch zur Nutzung mariner Ressourcen, sondern die Voraussetzung. Wir müssen lernen, das „One Ocean“-Prinzip ernst zu nehmen: Küsten, Hochsee, Tiefsee – alles ist miteinander verbunden, auch über Landesgrenzen hinweg.
Die Tiefsee ist kein ferner Ort. Ihre Gesundheit beeinflusst unser Klima, unsere Ernährung, unsere Zukunft. Ihre Erforschung ist eine Investition in Resilienz – ökologisch, ökonomisch, ethisch. Abtauchen? – ja. Aber bitte mit Tiefgang, Weitsicht und Verantwortung.
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