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Human Brain Project

Streit um das Gehirn

Gehirn, Nervenfasern

Nervenfaserverläufe in Mausgehirnen, dargestellt mit der Methode des Polarized Light Imaging. In diesem Bild sind die Faserverläufe in einem einzelnen, dünnen Schnitt (70 µm Dicke) farbig hervorgehoben. Jedem gemessenen Verlauf wird eine Farbe zugeordnet. Bild: Amunts, Zilles, Axer et. al./ Forschungszentrum Jülich

Beim Human Brain Project (HBP), einem der großen Forschungsprojekte der Gegenwart, gab es im vergangenen Jahr heftige Auseinandersetzungen zwischen den beteiligten Forschern. Nun sollen die Empfehlungen einer Schlichtungskommission umgesetzt werden, um das Vorhaben wieder in die Spur zu bringen. Ist das möglich?

Die ganze Menschheit sollte es voranbringen, womöglich gar unser aller Weltbild verändern, nun aber steht alles auf dem Spiel. Das Human Brain Project (HBP), ein riesiges Forschungsnetzwerk aus mehr als 120 Instituten in 26 Ländern, war im vergangenen Jahr angetreten, um ein noch viel gigantischeres Netzwerk wirklich zu verstehen: das Gehirn. Die Wissenschaftler wollten herausfinden, wie wir denken, was in den rund 100 Milliarden Nervenzellen geschieht, wie durch sie ein Bewusstsein entsteht, eine Persönlichkeit, Gedächtnis, Intelligenz, Krankheiten. Eine Milliarde Euro sollte das Vorhaben kosten, davon die Hälfte als Förderung der Europäischen Union für das einmalige, auf zehn Jahre angelegte Vorhaben. Es ist einer der größten Beträge, den die EU je in ein Forschungsvorhaben investiert hat. Aber was nützt ein aufwändiges Forschungsnetzwerk, wenn seine einzelnen Teile nicht miteinander arbeiten, sondern gegeneinander?

Bereits wenige Monate nach dem Start ging im Juli vergangenen Jahres bei der Europäischen Kommission ein offener Brief ein. Eine Beschwerde, aufgesetzt von mehreren Hundert renommierten Neurowissenschaftlern. Anlass war eine Umstrukturierung unter der Regie des Projektkoordinators und Hirnforschers Henry Markram von der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL), die das Projekt koordiniert. Zu schmalspurig sei das Projekt dadurch geworden, heißt es in dem Brief, den inzwischen mehr als 800 Wissenschaftler unterzeichnet haben. Angesichts der Ambition des HBP klingt dieser Vorwurf erst einmal seltsam.

Ein in Forschungskreisen kursierender Vergleich verdeutlicht aber recht anschaulich, worum es in der Auseinandersetzung geht. Wer ein Auto bauen will, kann dies auf zwei Arten tun. Entweder, man baut jede einzelne Schraube und versucht dann die vielen Tausend Bauteile so miteinander zu verbinden, dass am Ende ein Auto herauskommt. Oder man nimmt eine Wanne, schraubt vier Räder daran und verfeinert dann Schritt für Schritt den bereits fahrbaren Untersatz. Die Unterzeichner der Beschwerde bevorzugen letzteren, etwas pragmatischeren Ansatz für eine Simulation des Gehirns - führt er ihrer Meinung nach doch wenigstens zügig zu ersten Ergebnissen. Als die EU beim Projektstart Budgetkürzungen vornahm und Fördermodalitäten grundlegend veränderte, habe die Führung um Markram aber ausgerechnet bei den neurowissenschaftlichen Arbeitspaketen gekürzt, empören sich die Unterzeichner, die für einen Projekterfolg zwingend nötig sind.

Wolfgang Marquardt ist Vorstandsvorsitzender des Forschungszentrums Jülich. Foto: Forschungszentrum Jülich

Eine Grundsatzdiskussion zu Zielen und Wegen in einem risikoreichen Forschungsprojekt, in die auch noch die Vergabe von Forschungsgeldern hineinspielt – „da werden niemals alle einhellig einer Meinung sein”, sagt Wolfgang Marquardt, Vorstandsvorsitzender des Forschungszentrums Jülich bei Aachen. Marquardt hat mit allen Beteiligten viel und lange gesprochen. Seit vergangenem September ist er vom Board of Directors als Schlichter eingesetzt, um zwischen den zerstrittenen Parteien zu vermitteln. „Solche Meinungsverschiedenheiten muss eine so große und interdisziplinär zusammengesetzte Gruppe von Wissenschaftlern mit einem derart ambitionierten Ziel aushalten”, sagt Marquardt. Er glaubt, dass das Human Brain Project wieder auf Kurs gebracht werden kann - wenn sich einiges verändert. Vor Kurzem hat er dem Board of Directors des HBP die Handlungsempfehlungen der Schlichtungskommission übergeben.

Am 18. März gab das Board of Directors bekannt, dass die Empfehlungen umgesetzt werden sollen. Unter Anderem wird es eine breitere Führungsebene geben: Die Leitung des Human Brain Projects soll künftig auf mehrere Einrichtungen verteilt werden. Das dürfte einige Entscheidungsprozesse verlangsamen – aber es bedeutet auch mehr Demokratie. Die wird den beteiligten Wissenschaftlern zwar einige Kompromissbereitschaft abverlangen. Für das Projekt aber könnte es die Rettung sein.

Mehr Informationem zum Projekt und Meditationsprozess finden Sie auf den Seiten des Forschungszentrums Jülich.

Das Board of Directors des Human Brain Project hat am 19. März 2015 entschieden, die Empfehlungen der Mediationsgruppe anzunehmen.

Der Report der Schlichtungskommission

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