Antarktis
Schelfeis im Klimastress
Welche Folgen hat der Klimawandel für den antarktischen Eisschild? Forscher des Alfred-Wegener-Institutes haben jetzt einen Mechanismus entdeckt, der das befürchtete Abschmelzen des Schelfeises in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts dramatisch beschleunigen könnte.
Der Eispanzer der Antarktis gehört zu den Dingen auf der Welt, deren Ausmaße wir uns kaum vorstellen können. Allein der östliche Teil des Eisschildes erstreckt sich über eine Fläche so groß wie die USA und misst an seiner dicksten Stelle 4897 Meter. Sein kleinerer Nachbar, der Westantarktische Eisschild, kommt immerhin noch auf die Größe Saudi-Arabiens. Gemeinsam speichern sie 26,92 Millionen Kubikkilometer Eis – genug, um im Falle einer Schmelze den Meeresspiegel weltweit um rund 58 Meter steigen zu lassen.
Diese gigantische Menge Eis liegt nicht überall auf festem Untergrund. Vor allem an den Rändern des Kontinentes schieben sich die Eismassen Hunderte Kilometer weit auf das Südpolarmeer hinaus. Diese schwimmenden Eiszungen, an deren Front Eisberge kalben, werden Schelfeis genannt. Sie sind es bisher, die auf zweierlei Weise verhindern, dass die Eismassen auf dem Hochplateau im Landesinneren schneller in die tiefer gelegene Küstenregion rutschen. Denn: Das bis zu 1600 Meter dicke Schelfeis liegt stellenweise auf Unterseebergen oder Inseln auf, die wie Bremskeile sein Weiterrutschen verhindern. Außerdem berührt die Eisplatte ab einem gewissen Punkt den Meeresboden. Die großflächige Reibung der schweren Eisplatte auf dem Untergrund reduziert das Fließtempo zusätzlich.
Je wärmer es aber in der Antarktis wird, desto häufiger versagen diese Bremsmechanismen, wie sich derzeit vor allem im Amundsenmeer, an der Antarktischen Halbinsel und am Totten-Schelfeis in der Ostantarktis zeigt. Wissenschaftler haben deshalb die Schelfeisplatten als wichtige Schwachstellen des antarktischen Eisschilds identifiziert. Doch wie genau wird der Klimawandel dem Schelfeis gefährlich?
Warme Luft setzt eine Kettenreaktion in Gang
Eine Antwort auf diese Frage können jetzt Forscher des Alfred-Wegener-Institutes, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) geben. Ihnen ist es mithilfe detaillierter Klimamodellierungen am Beispiel des Filchner-Ronne-Schelfeises gelungen, die physikalischen Veränderungen in der Atmosphäre und im Meer zu entschlüsseln. Die Initialzündung kommt dabei von warmer Luft und schrumpfendem Meereis.
"Das Schicksal der großen antarktischen Schelfeisplatten wird durch das Meereis davor bestimmt", sagt AWI-Ozeanograph Hartmut Hellmer. Im südlichen Weddellmeer zum Beispiel bildet sich während der Herbst- und Wintermonate so viel neues Meereis, dass es am Ende des Winters eine Fläche von bis zu 4,5 Millionen Quadratkilometer bedeckt. Und immer wenn sich Meereis bildet, rinnt Salzlauge in das darunterliegende Wasser. "Die im südlichen Weddellmeer freigesetzte Salzmenge reicht aus, um die Wassermassen vor und unter dem Filchner-Ronne-Schelfeis in ein hydrografisches Bollwerk zu verwandeln", sagt Hellmer. Diese Barriere aus sehr salzigem und etwa minus 2 Grad Celsius kaltem Wasser schützt bislang das Schelfeis vor dem Einstrom 0,8 Grad Celsius warmer Wassermassen, welche die Meeresströmungen an der Kante des Kontinentalsockels entlang transportieren.
Steigt nun im Zuge des Klimawandels die Lufttemperatur über dem Weddellmeer, bricht diese Kältebarriere zusammen. "Die ersten Anzeichen dieser Entwicklung sehen wir schon heute. Zum einen gefriert weniger Meereis in der Region. Zum anderen belegen ozeanografische Messungen an der oberen Kante des Kontinentalsockels, dass die warmen Wassermassen bereits jetzt pulsartig immer weiter Richtung Schelfeis vorstoßen", so der Wissenschaftler.
Die schlechte Nachricht: Das Meer liefert dann Wärme nonstop
Sowie die Barriere fällt, kriechen die warmen Wassermassen auf den Kontinentalschelf und wandern durch tiefe Gräben weit unter das Schelfeis. "Von diesem Moment an gibt es dann kein Zurück mehr", sagt Hartmut Hellmer. "Das warme Wasser beschleunigt die Eisschmelze an der Schelfeisunterseite. Das dabei entstehende Schmelzwasser wiederum verstärkt eine Umwälzbewegung, die weiteres warmes Wasser aus dem Weddellwirbel unter die Eisplatte saugt. Die Hoffnung, dem Ozean würde irgendwann die Wärme ausgehen, ist unseren Berechnungen zufolge vergebens und der Prozess damit unumkehrbar."
Was passiert, wenn warmes Wasser dem Schelfeis nonstop von unten zusetzt, beobachten Polarforscher seit einigen Jahrzehnten im Amundsenmeer. Dessen Eisströme haben im Jahr 2013 rund 334 Gigatonnen Eis eingebüßt. Das waren rund 110 Gigatonnen mehr als noch im Jahr 1994. Vergleicht man die aktuellen Schmelz- und Kalbungsraten mit den Daten aus dem Jahr 1977, dann verlieren die Eisströme des Amundsenmeeres heute 77 Prozent mehr Eis als noch vor 40 Jahren. Gleichzeitig schieben fast alle Gletscher ihre Eismassen deutlich schneller Richtung Meer als dies in den 1970er-Jahren der Fall war. "Das Schelfeis und die Gletscher werden dünner, wodurch sich auch jene Linie landeinwärts verschiebt, ab der sie auf dem Untergrund aufliegen. Das heißt, die Eisplatten verlieren allmählich den Kontakt zum Meeresboden und damit ihre Funktion als Bremskeil", erläutert AWI-Modellentwickler und Schelfeisexperte Ralph Timmermann.
Zwei drastische Beispiele: Die Aufsetzlinie des Totten-Gletschers in der Ostantarktis hat sich im Zeitraum von 1996 bis 2013 um drei Kilometer zurückgezogen. Im Amundsenmeer verschiebt sich die Aufsetzlinie der in das Schelfeis mündenden Gletscher pro Jahr um bis zu einen Kilometer, berichten Wissenschaftler der University of California. Der Eisverlust in dieser Region allein trägt inzwischen 10 Prozent zum globalen Meeresspiegelanstieg bei.
Ist damit das Schicksal der antarktischen Schelfeisplatten besiegelt? "Für das Amundsenmeer können wir nun mit Recht behaupten, dass diese Wärmezufuhr nicht mehr zu stoppen ist. Der Regimewechsel hat hier bereits stattgefunden. Das heißt, die Massenverluste des Westantarktischen Eisschildes werden weiter zunehmen und seine Stabilität gefährden", sagt Hartmut Hellmer.
Die Aussichten für das Filchner-Ronne-Schelfeis fallen ebenfalls düster aus. Sollten die Modell-Berechnungen der AWI-Forscher Realität werden, schafft es das warme Wasser aus dem Weddellwirbel um das Jahr 2070 unter das zweitgrößte Schelfeis der Antarktis und setzt dort den Kreislauf aus Wärme und Schmelzwasser in Gang. "Ein Ende ist erst dann absehbar, wenn das Schelfeis zerfallen ist oder kein Gletschereis mehr aus dem Landesinneren nachfließt. Wir sprechen also über Prozesse, die mehrere Jahrhunderte lang andauern werden", so Ralph Timmermann.
Die Folgen dieser prognostizierten Dauerschmelze werden vor allem die Inselstaaten und Küstenstädte wie Miami oder Hamburg spüren. Berechnungen von Forschern des Potsdamer Institutes für Klimafolgenforschung haben nämlich ergeben, dass im Falle eines unverminderten Klimawandels das Filchner-Ronne-Schelfeis und die dahinterliegenden Eisströme so viel Eis verlieren werden, dass der weltweite Meeresspiegel in nur 200 Jahren um bis zu 40 Zentimeter steigen könnte.
Eine unumkehrbare Ozeanerwärmung bedroht das Filchner-Ronne-Schelfeis (Pressemeldung AWI)
Bohrexpeditionen am Filchner-Schelfeis
Das AWI sammelt einzigartige Daten aus dem Meer unter der Eiszunge. Um den angekündigten Einstrom des warmen Wassers unter das Filchner-Schelfeis messen zu können, haben AWI-Ozeanographen gemeinsam mit Wissenschaftlern aus Großbritannien und Norwegen an fünf Positionen durch die Eisplatte gebohrt und Messgeräte unter dem Schelfeis verankert. Sie messen in verschiedenen Tiefen die Temperatur und den Salzgehalt sowie die Strömungsgeschwindigkeit und -richtung des Wassers. Die tagesaktuellen Messdaten werden via Satellitenverbindung an das AWI geschickt. "Bis wir anhand dieser Daten jedoch Veränderungen sicher nachweisen können, werden noch ein paar Jahre vergehen", sagt AWI-Projektleiter Hartmut Hellmer
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