Direkt zum Seiteninhalt springen

Nacktmulle

Nackter Überlebenskünstler

Schrumpliger Tausendsassa. Der Mensch kann vom Nacktmull viel lernen, auch wenn der Nager einst zum hässlichsten Tier der Welt gewählt wurde. Bild: Roland Gockel

Nacktmulle haben über Millionen von Jahren hinweg Schutzmechanismen gegen Krebs, Schlaganfall und Herzinfarkt entwickelt. Ohne Sauerstoff überleben sie bis zu 18 Minuten. All das macht sie interessant für die Wissenschaft.

Sie sind nur fünf bis 15 Zentimeter lang, wiegen knapp 50 Gramm und wären sie nicht nackt, könnte man sie kaum von anderen Nagern unterscheiden – zumindest rein äußerlich. Auf den zweiten Blick aber haben Nacktmulle sehr spezielle Eigenschaften, die sie für die Wissenschaft hochinteressant machen: Sie erkranken nicht an Krebs, empfinden keinen Schmerz und können lang ohne Sauerstoff überleben.

„Manchmal ist es so, als würde man an einem Alien forschen, so unterschiedlich haben sich Nacktmulle im Vergleich zu anderen Nagetieren im Laufe der Evolution entwickelt“, sagt Thomas Park, Biologe an der University of Illinois in Chicago. Dabei sind sie genetisch zu 94 Prozent identisch mit Mäusen und Menschen.

„Manchmal ist es so, als würde man an einem Alien forschen“

Die Unterschiede beginnen schon beim Zusammenleben: Nacktmulle sind die einzigen Säugetiere, die wie Bienen oder Wespen einen Staat bilden, an dessen Spitze eine Königin steht. Allein ihr ist es vorbehalten, mit einem oder zwei Männchen aus der rund 300 Tiere starken Kolonie Nachkommen zu produzieren. Die anderen Tiere widmen ihr Leben der Arbeit. „Das ist ebenso ungewöhnlich wie die Tatsache, dass Nacktmulle Kaltblüter sind. Sie sind die einzigen Säugetiere, die keine Wärme von sich geben“, sagt Gary Lewin vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC). Beide Eigenschaften haben vermutlich den gleichen Grund: Die Tiere haben sich optimal an ihre Lebensumstände angepasst.

Schmerzunempfindlich: Gary Lewin und sein Team fanden heraus, dass Nacktmulle gegen Entzündungs- und Säureschmerz weitestgehend immun sind. Bild: Roland Gockel

Nacktmulle leben in großen unterirdischen Bauten in den Halbwüsten Ostafrikas. „Dort herrschen überwiegend stabile Temperaturen, eine Wärmeanpassung ist also nicht notwendig und würde nur Energie kosten“, sagt Lewin. Und Energie müssen die Tiere sparen, denn die Bedingungen im Boden unter der Halbwüste sind schwierig und kräftezehrend. Nacktmulle graben oft kilometerlange Tunnel auf der Suche nach nahrhaften Wurzeln, ohne dabei die Richtung zu kennen. „Um diese Schwierigkeiten zu überwinden, hat sich vermutlich die Eusozialität – also die Staatenbildung – als unter diesen Umständen effizienteste Lebensform durchgesetzt“, sagt Lewin.

Dieses hohe Maß an sozialem Verhalten lohnt sich nur, weil die Nacktmulle lange leben – bis zu 34 Jahre alt werden sie, ein stattliches Alter für Tiere ihrer Größe, wenn man bedenkt, dass Mäuse selten älter als drei Jahre werden. „Das soziale Verhalten wäre sonst nicht sinnvoll, schließlich ist die Fähigkeit zur Erneuerung der Kolonie sehr begrenzt, wenn nur ein Weibchen Nachwuchs bekommt.“ Einer der Gründe für die Langlebigkeit ist, dass Nacktmulle nicht an Krebs erkranken. Wissenschaftler von der Universität von Rochester im US-Bundesstaat New York konnten bereits 2013 in einer „Nature“-Studie zeigen, dass die Hautzellen der Tiere eine spezielle Form von Hyaluronsäure produzieren. Diese hat ungewöhnlich lange Molekülketten, die sich in großen Mengen zwischen den Zellen des Bindegewebes ablagern und Signale blockieren, die für ein Krebswachstum nötig wären.

Immun gegen Krebs, staatenbildend und kaltblütig

Eigentlich müsste das schon ausreichen, um das Herz von Medizinern und Biologen höher schlagen zu lassen. Aber bereits vor einigen Jahren fanden die MDC-Forscher um Lewin zusätzlich heraus, dass die Tiere gegen Entzündungs- und Säureschmerz weitestgehend immun sind. Dieser Schmerz, zu vergleichen etwa mit einem Zitronenspritzer in eine offene Wunde, dient bei Menschen und Mäusen als Warnung, um weitere Verletzungen zu verhindern. „Nacktmulle hingegen haben eine Säuretoleranz entwickelt“, sagt Lewin: „Vermutlich, weil in den Tunneln und Höhlen, in denen sie leben, der Sauerstoffgehalt sehr gering und zugleich der Kohlendioxidgehalt sehr hoch ist – unter normalen Umständen würde das zu einer Übersäuerung des Gewebes führen, der Nacktmull allerdings muss in diesen Bedingungen leben.“

Damit das gelingt, besitzen Nacktmulle Schmerzrezeptoren mit einer speziellen Eigenschaft: Ihr Natriumkanal wird von den elektrisch positiv geladenen Teilchen, die die Säure abgibt, blockiert. Wegen dieser Blockade leitet die Nervenzelle kein Schmerzsignal weiter. „Da die Schmerzrezeptoren von Nacktmullen ansonsten denen von Menschen und Mäusen sehr ähnlich sind, hoffen wir, dass sich dieses Wissen bei der Bekämpfung von chronischem Schmerz bei Menschen einsetzen lässt“, sagt Thomas Park.

Bild: Roland Gockel

Gemeinsam mit den Kollegen am MDC hat er kürzlich eine weitere Entdeckung gemacht, die für die Medizin relevant ist: Während der Mensch mindestens zehn Prozent Sauerstoffgehalt in der Atemluft braucht, um genug Energie zum Überleben zu erzeugen, reichen dem Nacktmull fünf Prozent völlig aus. Ihre Experimente dazu beendeten die Forscher nach fünf Stunden, weil sich bei der niedrigeren Sauerstoffkonzentration keinerlei Effekte bei den Nacktmullen zeigten.

Noch spektakulärer waren die Ergebnisse des nachfolgenden Versuchs: Die Wissenschaftler testeten, wie lange die Tiere gänzlich ohne Sauerstoff auskommen können – und fanden heraus, dass die Nacktmulle bis zu 18 Minuten ohne Sauerstoff überleben. Für Menschen wäre das undenkbar: „Selbst bei fünf Prozent Sauerstoffgehalt können wir höchstens fünf Minuten überstehen, ohne bleibende Schäden davonzutragen“, sagt Park.

Mit seinem Team beobachtete er, dass die Tiere nach etwa anderthalb Minuten in einen komatösen Zustand fielen, wenn sie ohne Sauerstoff auskommen mussten. Die Tiere stellen dabei ihre Bewegung ein und reduzieren Atemfrequenz und Puls – das Gehirn hingegen arbeitet weiter, wenn auch verlangsamt. Sobald die Nacktmulle wieder atmen konnten, wachten sie auf und lebten selbst nach 18 sauerstofflosen Minuten ohne bleibende Schäden weiter.

Möglich wird das durch eine Umstellung im Stoffwechsel der Tiere: „Wenn der Sauerstoff nicht mehr ausreicht, um Glukose aus der Nahrung zu verstoffwechseln, schalten die Tiere auf Fruktose um“, sagt Park. Zwar können viele Säuger Fruktose verwerten, allerdings zumeist nur in Niere und Leber. Nacktmullen gelingt das auch in anderen Organen.

Forscher hoffen, dass dieser Mechanismus künftig Menschenleben retten kann: „Wir würden Patienten gern vor den Folgen des Sauerstoffmangels bewahren, den ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall binnen Minuten anrichten. Denkbar wäre das, denn theoretisch sind nur kleine Veränderungen nötig, um den Körper auf den Fruktose-Stoffwechsel umzustellen“, sagt Lewin.

Überhaupt scheint der Mensch vom Nacktmull viel lernen zu können. Schließlich haben Nacktmulle als echte Überlebenskünstler über Millionen Jahre hinweg Schutzmechanismen gegen Krebs, Schlaganfall und Herzinfarkt - drei der weltweit häufigsten Todesursachen des Menschen - entwickelt. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum Park und Lewin die einst zum hässlichsten Tier der Welt gewählten Nager mittlerweile eigentlich ganz niedlich finden.

Aktuelle News und Forschungsberichte per Mail? Bestellen Sie unseren Newsletter.

Leser:innenkommentare