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Materialforschung

Kristalle aus dem Computer

Bild. KIT

Moderne Werkstoffforschung findet heute eher in Großrechnern als im Labor statt. Als Britta Nestler vor knapp 20 Jahren, als damals jüngste Professorin Deutschlands, auf dem Gebiet zu forschen begann, war das anders. Nun bekam die Forscherin den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis in Halle überreicht.

Schäume aus Metall, selbstreinigende Oberflächen oder stabilere Stähle: Neue Materialien genießen die ganze Aufmerksamkeit von Britta Nestler am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Nicht in Schmelztiegeln, Gussformen und Reagenzgläsern entstehen die Werkstoffe mit vielseitigen und teils verblüffenden Eigenschaften, sondern in schnellen Supercomputern. Britta Nestler zählt zu den weltweit führenden Köpfen, die der Materialforschung mit ausgeklügelten Modellen, pfiffigen Ideen und geballter Rechenleistung neue Impulse liefert.

"In der Natur wachsen etwa Eiskristalle in verschiedensten Formen“, sagt die studierte Physikern und Mathematikerin. "Und wir simulieren solche Prozesse am Rechner, um die Eigenschaften vieler Werkstoffen zu verbessern.“ So entwirft sie mit ihren gut 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wirkungsvollere und verschleißarme Bremsscheiben, die die Reibungswärme optimal ableiten. Oder auch Polymermembranen, die sich durch bessere Transporteigenschaften für Flüssigkeiten auszeichnen. Im Computer simulieren sie dazu die teils feinkörnige Mikrostruktur von Kristallen bis hin zum dreidimensionalen Modell des kompletten Bauteils.

"Die Simulation von Werkstoffen ist ein Megatrend in der Materialforschung und mittlerweile etabliert“, sagt Nestler, die diese Entwicklung seit knapp 20 Jahren mit vorantreibt. "Als damals jüngste Professorin Deutschlands baute sie 2001 mit großem Engagement eine Forschergruppe in Karlsruhe auf, die sich mit einem breiten Themenspektrum, angefangen von Formoptimierung, über klassische Metallurgie bis zu den Geowissenschaften, beschäftigte“, sagt Ingo Steinbach, Professor am Interdisciplinary Centre for Advanced Materials Simulation ICAMS an der Ruhr-Universität Bochum. Dieser Erfolg überrascht Steinbach nicht. "Denn Britta war davor eine meiner ersten und besten Studierenden, die es bisher am weitesten gebracht hat“

Während ihrer gesamten Laufbahn schätzt Britta Nestler die Nähe zur Anwendung und verfolgt die praktische Umsetzung ihrer Ergebnisse. Immer mehr Unternehmen erkennen, dass sie mit Methoden der Mathematik und Informatik neue Produkte schneller und günstiger entwickeln können. Immer häufiger kommen von den Unternehmen wichtige Impulse für die Materialforschung im Rechner, in Forschungskreisen auch "in silico“ genannt. Enge Kontakte zur Industrie sichert sich Nestler nicht zuletzt als Leiterin des Steinbeis-Transferzentrums "Werkstoffsimulation und Prozessoptimierung“, das sie 2008 gegründet hat.

Nestler sieht sich selbst eher zwischen Grundlagenforschung und der konkreten Anwendung: "Wir stehen an einer Schlüsselposition zwischen Physik, Informatik, Mathematik und Ingenieurswissenschaften.“ Denn für ihre Simulationen sammelt sie aktuelle Erkenntnisse der Festkörperphysik, um etwa Kristallstrukturen, Phasenwechsel und Wärmeleitung möglichst realistisch simulieren zu können. Diese fließen in aufwendige Programme ein, mit denen Nestler und Kollegen dann die Supercomputer in Stuttgart, München oder Karlsruhe füttern. Intensive Diskussionen in der Gruppe mit Blick auf an die Wand projizierte Strukturmodelle oder langen Listen mit Codezeilen sind ebenso wichtig wie konzentriertes Programmieren am Einzelrechner.

"Manchmal tappen die experimentellen Materialforscher völlig im Dunkeln“, weiß Nestler. Materialmischung, Temperatur, Druck, Zeitabläufe bei der Produktion: Viele verschiedene Parameter können in der Praxis variiert werden, um nach Stunden, Tagen oder Wochen den gewünschten Werkstoff zu erhalten. "Unsere Simulationen können einen Weg vorzeichnen, der besonders vielversprechend ist“, sagt Nestler. Damit lässt sich viel Zeit und Material einsparen. Und auch ein frustrierendes Herumirren in experimentellen Sackgassen. Nestlers Modelle zeichnen einen groben Weg vor, den experimentelle Materialforscher dann mit ihrem Detailwissen und praktischem Know-How folgen können. Seit wenigen Jahren bringt auch der 3D-Druck neue Impulse, da Computermodelle direkter in greifbare Prototypen verwandelt werden können. „Dieser Ansatz bietet heute noch nicht zu erahnende Chancen“, sagt Nestler.

"Sie ist eine internationale Forscherpersönlichkeit mit respektablem und viel geachteten Output mit Schwerpunkt auf theoretischer Modellentwicklung, aber auch praktischer Anwendung“, sagt Ingo Steinbach über die vierfache Mutter. Dass die Familie dabei nicht zu kurz kommt, ist Nestler sehr wichtig. "Natürlich ist da von mir Flexibilität gefordert.“ Britta Nestler weiß, dass das Potenzial neuer Werkstoffe mit bisher unerreichten Eigenschaften für Leichtbau, Energie- oder Medizintechnik noch längst nicht ausgeschöpft ist.

Preisverleihung in Halle. Bild: DFG / Falk Wenzel

Am 4. Juli erhielt Britta Nestler auf der Festveranstaltung bei der DFG-Jahresversammlung in Halle nachträglich den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2017. Die Verleihung des wichtigsten deutschen Forschungspreises war im März ausgesetzt worden,nachdem der DFG äußert kurzfristig vor der Preisverleihung anonyme Hinweise im Zusammenhang mit den Forschungsarbeiten von Britta Nestler bekannt gemacht worden waren. Nach intensiver Prüfung durch die DFG unter Hinzunahme auch externer Gutachter haben sich diese Vorwürfe nun als völlig haltlos erwiesen.

Britta Nestler erhält Leibniz-Preis

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