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COVID-19-Ausbreitung

Ist das schon die zweite Welle?

Bild: picture alliance/Sven Simon, Frank Hoermann

Infektionskrankheiten breiten sich häufig in Wellen aus. Warum ist das so und was erwarten Epidemiologen im Hinblick auf die steigenden Infektionzahlen für die nächsten Wochen?

Das Schlimmste könnte uns noch bevorstehen. Das ist zumindest die Befürchtung, wenn die Pandemie des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 so verläuft wie die Spanische Grippe in den Jahren 1917 und 1918. Damals war die zweite Welle größer und tödlicher als die erste Welle. In Deutschland scheint eine zweite Welle gerade Fahrt aufzunehmen. Doch vieles deutet darauf hin, dass sie dieses Mal ganz anders verläuft als während der Spanischen Grippe.

Dass sich viele Infektionserkrankungen in Wellen in der Bevölkerung ausbreiten, haben die epidemiologischen Beobachtungen der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte gezeigt. Ein klassisches Beispiel ist die Grippe, in der Fachsprache auch Influenza genannt. Jahr für Jahr im Winter steigt die Zahl der Erkrankten allmählich an, bis sie im Januar oder Februar ihren Höhepunkt erreicht. In verlässlichem Abstand kommt hier also jeden Winter eine neue Welle. In der Saison 2019/2020 waren 186.919 Menschen erkrankt und 518 gestorben, ein Jahr zuvor waren es 181.360 Erkrankte und 914 Verstorbene.

Es existiert keine klare wissenschaftliche Definition, ab wann eine zweite Infektionswelle vorliegt

Obwohl es zahlreiche solcher Beispiele für einen wellenartigen Verlauf gibt, existiert bislang keine klare wissenschaftliche Definition, ab wann eine Infektionswelle vorliegt. Der Begriff und das Bild dahinter stammen von der Grafik der täglichen Neuinfektionen (siehe Grafik unten): Steigen die täglichen Neuinfektionen an, kommt es zu einer Art Welle, die dann wieder abflacht. Doch was sind die Ursachen? Im Falle von Influenza – zu der auch die Spanische Grippe zählt – liegt der Grund für den wellenartigen Verlauf an der Jahreszeit: Im Winter, bei niedrigerer Temperatur, halten sich mehr Menschen zusammen in geschlossenen Räumen auf. Die Ansteckungsgefahr steigt.  Hinzu kommt die geringere Sonneneinstrahlung, die viele Viren schädigt und die niedrigere Temperatur.   

Manche Erreger neigen auch dazu, zu mutieren: Dadurch kann zum Beispiel der Immunschutz unterlaufen werden. Dieser Effekt tritt – zusätzlich zum jahreszeitlichen Faktor – auch bei der Grippe auf: Das Virus mutiert, deshalb wirkt die Grippeimpfung aus der Saison des Vorjahres nicht mehr – eine neue Welle kann sich aufbauen. In diesem Fall setzt der Erreger gewissermaßen selbst den Takt der wellenförmigen Ausbreitung. „Wie der wellenförmige Verlauf aussieht, kommt in diesen Fällen zu einem großen Teil auf den jeweiligen Erreger und seine Eigenschaften an“, sagt Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig.

Die Wogen der erstes Welle der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 schlugen im März und April über Deutschland zusammen, als die Erkrankungszahlen in der Spitze bei mehr als 6500 Neuinfektionen am Tag lagen. Anschließend gingen sie wieder zurück, am 12. Juli gab es nur noch 138 Neuinfektionen am Tag. Seitdem steigt die Zahl der täglich neu Infizierten langsam wieder an. Die Experten sind sich einig, dass dies nicht nur daran liegt, dass mehr getestet wird.

Doch der Verlauf der Welle wird beim Coronavirus zu einem großen Teil von anderen Faktoren bestimmt als dem Virus selbst – das macht SARS-CoV-2 zu einem Sonderfall. „Es waren hier nicht die Eigenschaften des Virus, sondern das der Menschen, das die erste Welle beendet hat“, sagt Rafael Mikolajczyk, Direktor des Instituts für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik an der medizinischen Fakultät der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg. Wenn das Virus sich ungehindert ausgebreitet hätte, dann wären jetzt wohl ein Vielfaches der Menschen in Deutschland infiziert – und gestorben. „Es waren zu einem großen Teil die Maßnahmen zur Eindämmung – Abstand, Mundschutz, Hygieneregeln –, die die erste Welle erfolgreich haben abebben lassen“, sagt Mikolajczyk. Nachdem es den Menschen mit strikten Maßnahmen gelungen ist, eine Welle erfolgreich einzudämmen, fahren sie die Eindämmungsmaßnahmen wieder zurück. Und schaffen so Raum für das Aufbauen einer neuen Welle. Bis diese wieder so hoch ist, dass die Eindämmung auch hochgefahren wird.  

Die Ahnungslosigkeit und Unbedarftheit der Menschen ist verschwunden

Die Menschen sind also nicht hilflose Opfer eines Virus, sie haben den weiteren Verlauf selbst in der Hand. Wenn man so will, halten sie den Schläger in der Hand bei dem Ping-Pong-Spiel zwischen Eindämmung und Entspannung. Wie hoch eine zweite Welle und weitere Wellen werden, scheint also zu einem guten Teil in der Hand der Menschen zu liegen: Wenn alle vorsichtig sind, verlaufen auch die Infektionswellen flach. Doch Gérard Krause vom HZI will die Vorsicht nicht über alles stellen: „Diejenigen Menschen, die in den letzten Wochen die Eindämmung etwas zurückgefahren haben, liegen ja de Fakto richtig, denn das Risiko einer Ansteckung ist durch die gesunkenen Fallzahlen auch gesunken.“ Deshalb sei das Ping-Pong-Spiel ein Stück weit eine gesunde Normalität. Entscheidend sei nur, zu verhindern, dass sich die Wellen nicht zu steil aufbauen.

„Dazu sind wir in einer guten Ausgangssituation, die Bevölkerung ist alarmiert und überwiegend auch vorsichtig ist“, sagt Krause. Jetzt gehe es eher darum, gezieltere Eindämmungsmaßnahmen zu entwickeln: „Wir müssen die Zahl und Lokalisation der schweren Erkrankungen betrachten – und hier mit einem größeren Hebel ansetzen“, sagt Krause. Das führt zu Fragen wie: Welche Hygienemaßnahmen lassen sich in Senioren-Residenzen umsetzen und einhalten? Wie kann man hier die Besuche organisieren? Wie lässt sich die Durchlüftung von Orten, wo sich viele Menschen aufhalten, etwa Einkaufspassagen, verbessern? „Wenn wir gezielt bei den Risikogruppen und -orten ansetzen, lässt sich der Schaden durch eine zweite Welle gering halten“, sagt Krause.

Natürlich kann die zweite Welle in den nächsten Wochen durch die anderen äußeren Bedingungen noch etwas an Fahrt aufnehmen, denn einen saisonalen Effekt gibt es bei SARS-CoV-2 auch: Im Herbst und Winter werden sich die Menschen wieder überwiegend drinnen aufhalten; die UV-Strahlung der Sonne, die nachweislich SARS-CoV-2 zersetzt, geht zurück, die Temperatur sinkt. Trotzdem glauben Krause und Mikolajczyk, dass die zweite Welle flacher verlaufen kann als die erste. Denn die Ahnungslosigkeit und Unbedarftheit der Menschen ist verschwunden. Sie sind vorsichtig geworden – selbst, wenn sie keinen Mundschutz tragen. Das könnte entscheidend sein, um eine umfassende Ausbreitung zu verhindern. Die Chancen stehen also gar nicht so schlecht, dass das Schlimmste schon hinter uns liegt.

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