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Kommentar

Forschung ist der Motor Europas

Bild: Marco Urban / Helmholtz

Das frisch gewählte EU-Parlament und die kommende EU-Kommission haben die Chance, neue Weichen zu stellen und Europa für den globalen Wettbewerb zukunftsfähig zu machen. Die Forschung sollte hierbei eine zentrale Rolle spielen. Ein Kommentar von Helmholtz-Präsident Otmar D. Wiestler.

Im Mai 2019 hat Europa sein neues Parlament gewählt. Mit über 50 Prozent war die Wahlbeteiligung die höchste seit 20 Jahren. Dieses eindrucksvolle Ergebnis hat gezeigt, dass sich viele Menschen für die EU engagieren und dass sie Erwartungen an die EU und ihr Leben in der EU haben. 

Vor der neuen Europäischen Kommission liegt also eine große Aufgabe: Sie muss den Bürgern zeigen, welchen enormen Mehrwert Europa für sie hat. Die geplante Überführung des EU-Forschungsressorts in ein breites Ressort „Innovation und Jugend“, in dessen Titel Forschung jede Sichtbarkeit verliert, ist ein bedenkliches Signal. Diese Bedenken aus einer breiten wissenschaftlichen Community teilten auch mehrere Europaparlamentarier bei  der Anhörung der designierten Kommissarin Mariya Gabriel am Montag. Für uns ist klar: Forschung muss eine zentrale und greifbare Rolle spielen. Mit ihr, der Forschung, gehen wir die großen gesellschaftlichen Herausforderungen an, sie ist der Motor, der Europa in die Zukunft führt.

"Die forschungsstärkeren Länder sind in der Pflicht, die schwächeren Länder einzubinden"

Im globalen Wettbewerb gilt es, Europas Profil zu schärfen. Die USA und Asien investieren enorme Summen in Forschung und Innovation; Europa darf hier nicht zurückfallen. Wir müssen Europa vielmehr als dynamischen Forschungs- und Entwicklungsraum gestalten. Für viele lokale Anliegen benötigen wir europäische Lösungen – sei es in der Gesundheitsforschung, bei den Themen Mobilität, künstliche Intelligenz oder Energieversorgung. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es zentral, dass die europäischen Staaten ihre Expertisen bündeln und gemeinsam noch mehr Durchschlagskraft entwickeln. Die forschungsstärkeren Länder sind dabei in der Pflicht, die schwächeren Länder einzubinden. Wenn wir in Europa unser Know-how in gemeinsame Projekte einbringen, haben wir international einen enormen Vorteil. Nehmen wir als Beispiel die Klimaforschung: Hier erfasste das von Helmholtz koordinierte EU-Projekt IMPACT2C, welche Auswirkungen eine Erderwärmung von zwei Grad Celsius europaweit haben würde – das ist wertvolles Wissen für unsere Zukunft. Und es ist Wissen, das heute über den Klimaatlas jedermann frei zugänglich ist. 

Die demografische Entwicklung stellt ganz Europa vor Herausforderungen und erfordert Fortschritte in der biomedizinischen Forschung, die in europäischer Kooperation wesentlich schneller gelingen können, als dies in nationalen Initiativen möglich wäre. Hinzu kommt in diesen Fällen die Chance, mit Patientendaten aus ganz Europa zu arbeiten. Ebenso profitiert die Energieforschung vom Zusammenbringen starker europäischer Partner: Ein Beispiel von vielen ist dabei das Projekt E-MAGIC, in dem zehn Partner aus Europa und Israel, unter anderem auch das KIT, gemeinsam an Batterien der Post-Lithium-Generation forschen. 

Forschung ist der Treiber für Innovation schlechthin – egal ob technische oder soziale. Heutige Forschungsergebnisse müssen deshalb so schnell wie möglich in die Anwendung kommen. Damit wir auch morgen noch bahnbrechende Innovationen haben, müssen wir jedoch heute die Grundlagenforschung im Bereich der globalen Herausforderungen konsequent stärken. Dies muss im kommenden EU-Rahmenprogramm „Horizon Europe“ im Vordergrund stehen.

Internationale Spitzenforschung lebt von kreativen und engagierten Köpfen. Europa muss zu einem Magneten für sie werden! Ziel muss sein, dass sich die innovativsten Talente, die oft in die USA streben, auch nach Europa orientieren. Das gelingt, wenn sie hier Kooperationsmöglichkeiten und Rahmenbedingungen von Weltniveau vorfinden. Ein wichtiger Bestandteil sind hochkarätige Forschungsinfrastrukturen, seien es Teilchenbeschleuniger oder Forschungsschiffe. Mit ihren einzigartigen Möglichkeiten ziehen sie junge Forschende aus aller Welt an. Diese Plattformen für internationale Kooperation sollten wir deshalb gemeinsam ausbauen und nutzen. Ihre Strahlkraft ist ein Standortfaktor, dessen Europa sich bewusst sein sollte – und den wir stärken müssen. 

„Horizon Europe“ braucht für diese Zukunftsaufgaben eine solide finanzielle Ausstattung – und das bedeutet die vom Europaparlament geforderten 120 Milliarden Euro. Mit lebendigen Kooperationen über Ländergrenzen hinweg können wir gemeinsam Beiträge zur Lösung der großen gesellschaftlichen Fragen leisten und damit die Zukunft der Menschen in Europa sichern. Daran müssen sich die Institutionen der EU messen lassen.

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