Interview
„Es besteht weiterhin eine erhebliche Gesundheitslücke zwischen Männern und Frauen“

Prof. Dr. Angela Goncalves bei der Fallings Walls Konferenz im November 2025 in Berlin. Bild: Falling Walls Foundation
Die geschlechtsspezifischen Defizite in der Medizin sind zwar bekannt, aber nicht behoben. Ângela Gonçalves vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) forscht in einem Bereich, der lange Zeit vernachlässigt wurde.
Bis heute fehlen verlässliche und langfristige Daten zur Gesundheit von Frauen. Dieser sogenannte Gender Health Gap weist auf ein Medizinsystem hin, das sich über Jahrzehnte hinweg stärker am männlichen als am weiblichen Körper orientiert hat. Dadurch blieb das Verständnis weiblicher Biologie unvollständig, mit spürbaren Folgen für Diagnose und Behandlung.
Hier setzt die Arbeit von Ângela Gonçalves an. Die Professorin vom DKFZ erforscht seit Jahren die grundlegenden biologischen Prozesse des Menstruationszyklus und der Menopause. Sie kombiniert Laborversuche und Computeranalysen, um zu verstehen, wie frühe Veränderungen im Gewebe zu Krebs führen können. Für ihre Arbeit wurde sie bei der Falling Walls Konferenz als Science Breakthrough of the Year ausgezeichnet.
Frau Gonçalves, obwohl seit Langem bekannt ist, dass Frauen anders auf Krankheiten und Therapien reagieren, wurde ihre Biologie kaum erforscht. Warum?
Tatsächlich war diese Erkenntnis lückenhaft, inkonsistent und wurde nicht in systematische Veränderungen umgesetzt. Es besteht weiterhin eine erhebliche Gesundheitslücke zwischen Männern und Frauen. Bei Frauen konzentriert sich die Forschung oft auf Krankheiten mit hoher Sterblichkeit, doch die enorme Belastung durch Erkrankungen wie Wechseljahresbeschwerden, prämenstruelles Syndrom (PMS), Migräne oder Endometriose wird weiterhin übersehen. Gründe dafür sind fehlende geschlechtsgetrennte Daten, soziale Vorurteile, die Symptome verharmlosen, und die geringe Zahl von Frauen in Forschungsleitungen. Zudem passen viele dieser Erkrankungen nicht klar in einzelne Fachgebiete, was die Förderung erschwert. So entstand ein Kreislauf, in dem frauenspezifische Erkrankungen übersehen und unterfinanziert blieben.
Ihre Daten zeigen, dass der Menstruationszyklus über viele Jahre zu Fibrose, Entzündungen und Mutationen führen kann. Warum wurden die möglichen Folgen übersehen?
Der Zusammenhang zwischen der Anzahl lebenslanger Zyklen und Krebsrisiko ist seit Jahrzehnten bekannt. Die molekularen Mechanismen dahinter bleiben jedoch unklar, was sinnvolle Präventionsstrategien erschwert. Das meiste Gewebe stammt von Patientinnen, die bereits erkrankt sind. Deshalb fehlen uns „normale“ molekulare Momentaufnahmen von Frauen, die gesund altern. Gewöhnliche Prozesse wie zyklische Gewebeverletzung und -reparatur wurden zu wenig erforscht.
Ihre Arbeit bringt Laborforschung, moderne Genomik – also die Analyse des Erbguts – und KI zusammen. Welche neuen Erkenntnisse sind dadurch möglich?
Die Kombination aus Laborforschung, moderner Genomik und künstlicher Intelligenz erlaubt es uns, die große Vielfalt und das Zusammenspiel Tausender molekularer Prozesse in Zellen und Geweben sichtbar zu machen. Dadurch erkennen wir Muster von Entzündungen, Mutationen und Stress, die mit klassischen Methoden, die meist nur einzelne Gene betrachten, verborgen bleiben. Weil Genomik sehr große Datenmengen erzeugt, ist künstliche Intelligenz unverzichtbar. Sie verknüpft die Daten, entdeckt versteckte Zusammenhänge und zeigt erste Abweichungen von gesunder Biologie. Auf diese Weise können wir die frühesten molekularen Anzeichen einer Erkrankung identifizieren und verstehen, wie und warum solche Veränderungen entstehen.
Wie ergänzt die Arbeit im Labor die computergestützte Analyse?
Unsere Arbeit folgt einem Kreislauf: Im Labor entstehen zunächst große Datensätze, die wir analysieren, um Muster zu erkennen und Hypothesen abzuleiten. Mit diesen Hinweisen gehen wir zurück ins Labor und prüfen, ob unsere Hypothesen tatsächlich stimmen. Die neuen Ergebnisse fließen anschließend in die nächste Analyse ein, verfeinern die Modelle und führen zu präziseren Fragen. Experiment und Datenwissenschaft arbeiten also eng zusammen.
Was zeigt Einzelzellforschung, das im Gesamtgewebe unsichtbar bleibt?
Einzelzellgenomik ermöglicht es, jede Zellart separat zu betrachten. Bulk-Daten mischen alle Zelltypen und können wichtige Vorgänge verdecken oder widersprüchliche Ergebnisse erzeugen. Durch Einzelzellanalysen wird sichtbar, dass Zelltypen im selben Gewebe teils entgegengesetzt reagieren: Ein „erhöhtes“ Signal kann von wenigen Zellen stammen, während andere das Gegenteil tun. So erkennen wir, welche Zelltypen Veränderungen tatsächlich verursachen.
An welcher Stelle verändert KI Ihre Arbeit am deutlichsten?
Bei den enorm großen Datensätzen aus Einzelzell-, räumlichen und bildgebenden Technologien stoßen klassische Analysemethoden schnell an ihre Grenzen. KI kann diese Daten besser verarbeiten: Sie erkennt Muster, deckt Lücken auf und sorgt dafür, dass Experimente miteinander vergleichbar werden. In der Bildgebung kann sie außerdem die Auswertung automatisieren und seltene Zellzustände oder sehr feine Veränderungen sichtbar machen, die Menschen oft übersehen.
Sie analysieren auch Menstruationsproben. Was lässt sich daraus über die Gesundheit von Frauen ablesen?
Menstruationsproben ermöglichen einen einzigartigen, nicht-invasiven Zugang zur Gebärmutterschleimhaut. Da gesunde Frauen nicht routinemäßig biopsiert werden, stammen viele Daten bislang aus dem klinischen Kontext. Menstruationsflüssigkeit liefert dagegen direkte Informationen über normales, gesundes Gewebe, die Bluttests und Bildgebung nicht bieten können.
Welche Technologie wird die Frauengesundheit in den kommenden Jahrzehnten am stärksten voranbringen?
Tragbare Sensoren. Sie liefern kontinuierliche Gesundheitsdaten, nicht nur Momentaufnahmen; und das relativ kostengünstig und völlig nicht-invasiv. In Kombination mit molekularen Daten ermöglichen sie personalisierte Risikoanalysen und frühere Warnsignale als je zuvor.
War es schwierig, finanzielle Unterstützung für die Forschung zur weiblichen Gesundheit zu erhalten?
Eigentlich nicht. Die meisten Männer und Frauen, mit denen ich gesprochen habe, erkannten sofort, dass diese Themen wichtig sind. Dennoch ist das Feld insgesamt unterfinanziert, weil zu wenige Menschen sich aktiv dafür einsetzen. Um nachhaltige Fortschritte zu erzielen, brauchen wir mehr Forscherinnen, Förderer und Institutionen, die Frauengesundheit als zentrale wissenschaftliche und medizinische Herausforderung betrachten – und nicht als Nischenthema.
Woran möchten Sie in Ihren nächsten Projekten forschen?
Eine zentrale Frage ist, wie im Eileiter präkanzeröse Läsionen entstehen, also kleine Veränderungen im Gewebe, die später zu Eierstockkrebs führen können. Noch wissen wir nicht, welche dieser Veränderungen entscheidend sind und warum manche Frauen solche Vorstufen entwickeln und andere nicht. Deshalb möchte ich herausfinden, welche Bedeutung Alter, Hormone oder genetische Veranlagung bei diesen frühen Veränderungen haben. Auch das Immunsystem und Entzündungen spielen vermutlich eine große Rolle. Das Ziel ist, Risiken so früh zu erkennen, dass sich gar keine Läsion bildet – und Strategien zu entwickeln, die verhindern, dass Krebs überhaupt entsteht.
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