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Ozeanforschung

Die Verkannten

Wissenschaftler sehen großen Nutzen für Quallen. Etwa als Biofilter gegen Mikroplastik (Bild: Shutterstock.com/iarecottonstudio)

Immer mehr Forscher entdecken ihre Faszination für die unscheinbaren Quallen: Sie enträtseln Stück für Stück die Rolle, die sie im Ökosystem spielen – und hoffen sogar darauf, mithilfe von Quallen Mikroplastik aus dem Meer zu filtern. 

Offiziell sind sie einfach nur „Organismen, die schwebend im Wasser treiben“: Weil sie nicht lange gegen Meeresströmungen schwimmen können, werden Quallen zum Plankton gezählt. „Sie sind seit über 500 Millionen Jahren an ihren Lebensraum angepasst und in ihrem Aufbau sehr einfach geblieben“, erklärt Jamileh Javidpour, Ökologin und Quallenexpertin von der Süddänischen Universität in Odense. Quallen haben kein Hirn, sondern stattdessen ein Netz aus Nervenzellen – sie sind Wesen aus Haut und Gallertmasse, mit Magen und Mund. Lange galten Quallen als Sackgasse im Nahrungsnetz, die nicht lohnte, erforscht zu werden. Erst als bekannt wurde, dass sie zu den invasiven Arten gehören und auch wirtschaftlichen Schaden anrichten können – etwa als sie durch ihre schiere Masse die Kühlwasserzufuhr eines schwedischen Kraftwerks lahmlegten – rückten sie in den Fokus. 

Fest steht: Insgesamt gibt es weltweit mindestens 260 verschiedene Arten von Medusen, wie die Quallen wissenschaftlich korrekt genannt werden. Die filigranen Wasserbewohner sind enorm anpassungsfähig. Während einige Arten in den eiskalten Polargebieten leben, sind andere in den tropischen Gewässern des Äquators heimisch. Auch in Süßwassern sind sie zu Hause: Sie haben zahlreiche Seen rund um den Globus besiedelt. Kennzeichnend ist ihre Art der Fortbewegung: Sie ziehen ihren Schirm glockenartig zusammen, stoßen Wasser zurück und bewegen sich so nach vorn. Je größer die Qualle, desto getragener dieser Bewegungsablauf. Majestätisch sieht das unter Wasser aus. 

Aus der Ostsee sind vor allem die Ohren- und die Feuerqualle bekannt, Letztere vor allem dafür, dass Nesselgifte in ihren Tentakeln unangenehme Verbrennungen auf menschlicher Haut verursachen. „Häufig fürchten sich Menschen deshalb vor Quallen – oder sie ekeln sich vor den Überresten, die am Strand angespült werden. Vor allem, wenn während einer sogenannten Blüte lokal besonders viele Quallen einer Art auftreten“, sagt Jamileh Javidpour. Als Blüte wird ein massenhaftes Vorkommen bezeichnet.

Wissenschaftler spüren den Geheimnissen der Quallen nach (Bild: Jamileh Javidpour).

Zunächst einmal seien Schwankungen im Quallenvorkommen ein natürlicher Prozess. „Strömungen und vor allem Winde, die das Ostseewasser umwälzen, beeinflussen ihre Verbreitung. Das macht Vorhersagen für die nächste Blüte auch so herausfordernd“, erklärt Biologe Jan Dierking vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung, der sich mit mariner Ökologie und Evolution befasst und dafür Zeitreihen erhebt. Jedes Jahr im April und Mai fährt er mit seinen Kollegen per Forschungsschiff auf einer 1.500 Kilometer langen Strecke zwischen Kiel und der schwedischen Insel Gotland an einem festen Stationsnetz entlang. Dabei sammeln sie für die „Baltic Integrated Data Series“ ozeanografische Daten: Sie messen physikalische und chemische Parameter, untersuchen Fischbestände sowie Plankton-Nahrungsnetze – und seit einigen Jahren nehmen sie auch verstärkt Quallen in den Blick. Der Mensch begünstige prinzipiell ihre Ausbreitung, auch in der Ostsee. Durch Überfischung haben sie weniger Fressfeinde und eine größere ökologische Nische, auch mit der Erwärmung des Wassers oder einem niedrigeren Sauerstoffgehalt kommen sie – als Organismus ohne Muskeln – besser klar. Explosionsartig sei ihr Bestand jedoch nicht angestiegen, so Jan Dierking.

„Uns interessiert auch, inwiefern Quallen mit Fischlarven und Fischen um Plankton als Nahrung konkurrieren. Wenn wir ihre Rolle im Nahrungsnetz besser einordnen wollen, benötigen wir noch mehr Wissen über die Qualle als Beute“, sagt Jan Dierking: „Wir konnten bereits zeigen, dass Quallen wichtiger sind als gedacht. Sie stehen auf einer höheren Hierarchieebene als angenommen und liefern ihren Fressfeinden wichtige Fettsäuren, die andere Lebewesen nicht selbst bilden können.“ Sie bestehen zwar zu 98 Prozent aus Wasser, aber es gibt weltweit immer mehr Beispiele dafür, dass sie für Fische trotzdem wichtige Nahrungslieferanten sind. Erst moderne genetische und molekulare Methoden konnten dies bei Analysen von Mageninhalten von Fischen zeigen, da Quallen so schnell zerfallen, dass sie dort früher nicht nachweisbar waren. 

Die Quallen durchlaufen einen komplexen Lebenszyklus, der sich von Ei und Larve über Polyp hin zur Meduse zieht – jener scheibenartigen, nahezu durchsichtigen Form mit Tentakeln, für die die Quallen bekannt sind. Die Larven, die Jan Dierking bei seinen Ausfahrten im Frühling sammelt, sind noch so klein, dass sie nur mit Hilfsmitteln sichtbar sind. Feststellen konnten die Forscher, dass nach milden Wintern mehr Larven zu finden sind. Solche Daten fließen dann in Biobanken ein. 

„Ich will wegkommen von diesen ablehnenden Reaktionen auf Quallen.“

Nützlich sind diese Informationen auch für das EU-geförderte Projekt GoJelly, an dem das GEOMAR mitarbeitet und das Jamileh Javidpour koordiniert. Die Forscherin hatte für ihre Masterarbeit Fischlarven im Kaspischen Meer untersucht. Sie sei damals überrascht gewesen, wie invasive, noch kleine Quallen deren Bestände minimiert hätten, erzählt sie. „Über die unterschätzten Quallen wollte ich unbedingt mehr wissen, auch wenn ich belächelt wurde“, sagt sie. Seit ihrer Doktorarbeit am GEOMAR konzentriert sie sich, nachhaltig fasziniert, auf Quallen. „Ich will wegkommen von diesen ablehnenden Reaktionen auf Quallen“, sagt sie. Bei GoJelly beleuchten europäische Partner gemeinsam Quallen aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln: Ökologie, Bürgerwissenschaft und vor allem Bioökonomie – also mit dem Hintergedanken, welches wirtschaftliche Potenzial in ihnen liegen könnte. 

Dass die Quallen frei schwimmen (rechts), ist nur ein kurzes Stadium in ihrer Entwicklung (Bild: Shutterstock.com/Kazakova Maryia).

Konkretes Ergebnis ist etwa ein zum Patent angemeldetes Filtersystem, das mithilfe des Quallenschleims nahezu 98 Prozent des Mikroplastiks und selbst Mikrofasern aus dem Wasser filtern kann und beispielsweise in Klärbecken zum Einsatz kommen könnte. Doch auch die übrigen Bestandteile der Quallen wollen die Forscher nutzen. „Wir haben uns gefragt: Sind Quallen als Fischfutter in Aquakulturen geeignet? Als Düngemittel auf Feldern? Das in ihnen vorhandene Kollagen wird schließlich wegen seiner feuchtigkeitsspendenden Eigenschaften geschätzt.“ Im Labor zeigen sich tatsächlich „coole Effekte“, wie Jamileh Javidpour sagt: positive Auswirkungen auf die Bodenqualität. Nun gelte es, mit der Düngemittelindustrie zu erproben, ob sich Quallen wirtschaftlich nutzen lassen. Auch noch weitere Ergebnisse sind viel-versprechend, so etwa könnte Kollagen aus Quallen für Kosmetikprodukte genutzt werden. 

„Die Quallenforschung weltweit steht immer noch am Anfang.“

Mindestens ein Dilemma zeichnet sich bei alledem ab: Für diese Anwendungen wird es nicht ausreichen, einfach die in wechselnder Zahl angespülten Quallen zu sammeln. Wildfang oder Aquakulturen, in denen „gezielt Quallen-Biomasse hergestellt wird“, so Jamileh Javidpour, wären Auswege. Die allerdings bergen Risiken: „Quallen wild zu fangen kommt aus meiner Sicht nicht infrage, die Folgen sind unklar. Auch bei Aquakulturen – wie es sie in China bereits gibt – darf man nicht leichtsinnig vorgehen: Gibt es eine Verbindung zum Meer, kann es passieren, dass „reife“ Medusen Tausende Larven produzieren, die ins Meer gelangen, und damit in freier Wildbahn viel zu viele Quallen entstehen.“ Wolle man sie jedoch in isolierten Anlagen züchten, dann erhöhe diese Sicherheit den Preis gewaltig. „Wichtig ist mir, dass die Forschung nicht erst bei Problemen zurate gezogen wird. Wir müssen vor solchen schwerwiegenden Eingriffen ins Ökosystem unbedingt noch mehr verstehen. Sonst lautet mein Plädoyer: Finger weg!“, so die Ökologin. 

Diese Wissenslücken zu schließen ist ihr großes Ziel. Und auch Jan Dierking vom GEOMAR möchte noch mehr herausfinden: „Die Quallenforschung weltweit steht immer noch am Anfang. Ein Erfolg wäre zum Beispiel, die Bedeutung von Quallen in Nahrungsnetzen auch quantitativ abzuschätzen.“ Wichtig sei es auch zu erfassen, wie es sich auf die Kohlenstoffkreisläufe auswirkt, wenn tote Quallen nach einer Blüte absinken. „Mit solchen Puzzleteilen könnten wir die Bedeutung von Quallen für das Ökosystem Meer besser verstehen.“

Zum Weiterlesen:

Quallen - Profiteure des Klimawandels?

Warum ist Mikroplastik schädlich?

Woher kommt Mikroplastik? (Infografik)

Seit 2009 findet jedes Jahr am 8. Juni der Welttag der Ozeane statt. Im Dezember 2008 beschlossen die Vereinten Nationen den Welttag, um auf die Bedrohung der Meere aufmerksam zu machen. Dieser Aktionstag erinnert an die ökologische Bedeutung der Meere und an die Gefahren, denen die Ozeane durch Klimawandel, Verschmutzung und Überfischung ausgesetzt sind.

Mehr dazu auf dem Portal zum Welttag der Vereinten Nationen.

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