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Forschung

Die schwierige Suche nach den Gründen

Bild: Martinan - istock

Jedes Jahr nehmen sich weltweit rund 800.000 Menschen das Leben. Meist hat der Suizid mehr als nur eine Ursache. Welchen Einfluss Arbeitsbedingungen auf das Risiko haben, untersuchten nun Deutsche Forscher. Das Ergebnis hat die Wissenschaftler überrascht

Kar?shi nennen es die Japaner: Tod durch Überstunden. Manchmal treten Suizide auch gehäuft bei einem bestimmten Arbeitgeber auf. In nur einem Jahr sprangen in China neun Mitarbeiter der Elektronikfirma Foxxconn in den Tod. Arbeit und Suizid können zusammen hängen. Nur wie, das ist eine offene Frage. Zum ersten Mal haben nun Forscher in Deutschland untersucht, welchen Einfluss die Arbeitsbedingungen auf das Suizidrisiko haben.

Der Statistiker Jens Baumert vom Helmholtz Zentrum in München hat die Forschungsstudie geleitet. Er untersucht seit Jahren Faktoren, die das Suizidrisiko erhöhen. Zuvor hatte er sich jedoch auf Erkrankungen wie Diabetes Mellitus oder Herzinfarkt konzentriert. Mit der aktuellen Studie betrat er Neuland: Zwar gab es Untersuchungen darüber, ob Stress im Job zum Suizid führt, sie kamen jedoch zu unterschiedlichen Ergebnissen. Was bestimmte Arbeitsbedingungen bewirken, war - zumindest in Deutschland - noch nie untersucht worden. „Das Ergebnis hat uns überrascht“, sagt Baumert.

Etwa 9.900 Männer und Frauen haben sich 2012 in Deutschland das Leben genommen, geht aus der Mortality Database der World Health Organisation (WHO) hervor. Weltweit geht die WHO von 804.000 Fällen aus. In ihrem aktuellen Report „Preventing suicide: A global imperative“ vermutet die WHO außerdem, dass auf einen Tod durch Suizid noch mehr als 20 Versuche kommen. Es ist wissenschaftlicher Konsens, dass jeder Suizid mehr als nur eine Ursache hat. „There is no single explanation of why people die by suicide“, schreibt die WHO in ihrem Report.

Viele Faktoren, von denen bekannt ist, dass sie das Suizidrisiko erhöhen, werden eher dem Privatleben zugeordnet: Erhöhter Alkoholkonsum, Rauchen, allein Leben. Gruppen, auf die eines oder mehrere dieser Merkmale zutreffen, gelten als Risikogruppe. Ein besonders hohes Risiko hat statistisch gesehen ein allein stehender Mann mit geringer Bildung, der raucht, viel trinkt und wenig wiegt. Die Studie von Jens Baumert und seinen Kollegen zeigt nun, dass auch berufliche Faktoren das Suizidrisiko erhöhen können.

Beteiligt waren neben Wissenschaftlern des Helmholtz Zentrums München auch Wissenschaftler des Klinikums rechts der Isar der TU München, der LVR-Klinik in Köln und der Universität Düsseldorf. Sie konnten auf eine Langzeituntersuchung zurückgreifen. In Süddeutschland waren Angestellte zwischen 1984 und 1995 über ihre Lebensgewohnheiten, Krankheiten und Arbeitsbedingungen befragt worden. Die Gruppe ist repräsentativ für die Bevölkerung. Das Forscherteam wertete die Daten von rund 6.800 Menschen aus. Aus dieser Gruppe hatten in der Nachbeobachtungszeit 26 Männer und zwei Frauen Suizid begangen.

Geprüft wurde in drei Kategorien: Erstens wurden die chronobiologischen und die körplich belastenden Arbeitsbedingungen abgefragt. Dazu gehören zum Beispiel Überstunden, Schichtarbeit, Lärm oder gefährliche Arbeitsbedingungen. Zweitens ging es um psychologische und soziale Komponenten wie starken Wettbewerb, hohe Verantwortlichkeit oder den Druck, schnelle Entscheidungen treffen zu müssen. Drittens wurde beruflicher Stress erfragt.

Das Forscherteam stellte fest, dass es die schlechten chronobiologischen und körplich belastenden Arbeitsbedingungen waren, die das Suizidisiko signifikant erhöhten. Da vor allem junge Männer mit geringer Bildung im Schichtdienst oder nachts arbeiten und Lärm oder Belastungen ausgesetzt sind, können dabei einige Risikofaktoren zusammen kommen. Aber selbst unabhängig von den bekannten Risikofaktoren wie Alleinleben oder hoher Alkoholkonsum, blieb das Suizidrisiko bei schlechten Arbeitsbedingungen erhöht. Arbeitnehmer, die einem hohen Ausmaß an solchen ungünstigen Arbeitsbedingungen ausgesetzt waren, hatten ein mehr als zweimal so hohes Suizidrisiko als Arbeitnehmer mit weniger belastenden Bedingungen.

Dagegen konnten die Wissenschaftler keinen Zusammenhang zwischen dem Suizidrisiko und dem beruflichen Stress herstellen. Stress im Job kann zwar krank machen, führt aber eher zu chronischen Krankheiten wie Herzerkrankungen oder Diabetes und eher nicht zum Suizid. „Wenn jemand starken beruflichen Stress hat, ist das etwas anderes, als wenn jemand durch permanente schlechte Arbeitsbedingungen abstumpft“, erklärt sich Baumert das Phänomen. Auch durch die psychologischen und sozialen Komponenten hat sich das Suizidrisiko nicht wesentlich erhöht.

„Das ist ein Ergebnis, das überraschend ist,“ sagt auch Thomas Bronisch, lange Zeit Oberarzt an der Klinik des Max-Planck-Institutes für Psychiatrie in München, der sich intensiv mit dem Thema Suizid auseinandergesetzt hat. „Die Studie ist sehr schön geplant, weil sie über einen langen Zeitraum geht und auf sehr vielen Personen beruht. Man muss nun sehen, ob weitere Studien auch dieses Ergebnis zeigen“, sagt er.

Natürlich kann man aus der Studie nicht folgern, dass jeder Nachtdienstler oder Fließbandarbeiter gefährdet ist. „Ein einzelner belastender Faktor lässt sich wohl noch kompensieren“, sagt Baumert. „Je mehr jedoch belastende Faktoren zusammen kommen, desto höher wird das Risiko.“ Wenn also jemand bereits zur Depression neige, könne die Nachtschicht stärker auf ihn wirken, als auf einen Gesunden. Auch hier gilt wieder, dass jeder Suizid mehr als nur eine Ursache hat. Es spielt zum Beispiel auch eine Rolle, wie leicht es ist, sich das Leben zu nehmen: „Manche Berufsgruppen sind gefährdeter, weil sie Zugriff zu den Methoden haben“, sagt Thomas Bronisch. „Polizisten, die eine Waffe tragen, zum Beispiel.“

Über die genauen Zusammenhänge für das erhöhte Risiko sagt die Statistik noch nichts aus. Einiges kann man jedoch logisch ableiten: Den Arbeitsbedingungen ist man den größten Teil des Tages ausgesetzt. Sie können so die Gesundheit beeinflussen. Besondere Arbeitszeiten, wie der Schichtdienst, wirkten sich auch auf das Privatleben aus, weil man durch sie einen anderen Lebensrhythmus bekomme als Familie oder Freunde, erklärt Baumert. Wer nachts arbeiten muss, beginne vielleicht unter Schlaflosigkeit zu leiden, die wiederrum ein nachgewiesener Faktor für ein erhöhtes Suizidrisiko sei, sagt Baumert. „Schichtarbeit könnte zu Depressionen führen und das wiederrum zum Selbstmord – aber das ist spekulativ“, sagt Bronisch.

Was bedeutet das für die Suizidprävention? Im Gegensatz zu Alkoholkonsum oder Depressionen lassen sich die Faktoren, die Jens Baumert und seine Kollegen untersucht haben, leichter beeinflussen – und zwar nicht von den Betroffenen. „Ich wünsche mir, dass die Studie eine Diskussion anstößt“, sagt Baumert. Arbeitgeber sollten ihre Arbeitsbedingungen verbessern: „Speziell was die Überstunden betrifft“, sagt Baumert. Er ist überzeugt: „Bei den meisten Arbeitsplätzen könnte man etwas ändern.“ Thomas Bronisch glaubt nicht, dass man die Wirtschaft grundlegend umstellen kann, hält aber mehr Achtsamkeit gegenüber den Angestellten für ratsam: „Die Gesellschaft kann durchaus etwas tun. Wenn man mit den Angestellten sorgsamer umgeht, könnte sich das auf die Suizidrate auswirken“, sagt er. In der Studie äußeren die Autoren eine große Hoffnung: Arbeitgeber könnten helfen, Selbstmorde zu vermeiden.


Die Studienergebnis wurde im Fachjournal „Journal of Psychiatric Research” veröffentlicht: Baumert J, Schneider B, Lukaschek K, Emeny RT, Meisinger C, Erazo N, Dragano N, Ladwig KH. Adverse conditions at the workplace are associated with increased suicide risk. J Psychiatr Res 2014, 57:90-95

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