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Energiewende

„Die Politik muss auch nach der Wahl Kurs halten“

Prof. Dr.-Ing. Holger Hanselka, Jahrgang 1961, ist Präsident des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und Vizepräsident für den Forschungsbereich Energie der Helmholtz-Gemeinschaft. Bild: Andrea Fabry, KIT

In einem interdisziplinären Forschungsprojekt wollen Wissenschaftler bis 2019 greifbare Lösungen für das Energiesystem der Zukunft entwickeln. Wir sprachen mit Holger Hanselka, dem Koordinator des Projektes über seine Bilanz und darüber, was er sich von der nächsten Bundesregierung wünscht.

Herr Hanselka, Sie sind für die Initiative Energie System 2050 verantwortlich. Worum geht es dabei?

Wir wollen in Deutschland eine Energiewende herbeiführen, die uns vor enorme Herausforderungen stellt. Das heißt, wir müssen unser Energiesystem grundlegend umbauen. Die Initiative Energiesystem 2050 hat die Aufgabe, greifbare und verwertbare systemtechnische Lösungen für die Energiewende zu erforschen.

Für wen werden diese Lösungen relevant?

Die Lösungen bieten wir der Politik und der Wirtschaft an, um daraus Entscheidungen abzuleiten und Produkte zu entwickeln. Dabei sollen nicht nur die technischen Komponenten des Energiesystems betrachtet werden, sondern auch - und das ist für uns bei Helmholtz besonders wichtig - gesellschaftliche und ethische Fragen. Im Einzelnen beschäftigen wir uns mit fünf verschiedenen Themen: Speicher und Netze, biogene Energieträger, die Rolle von Wasserstoff im Energiesystem, die Frage, wie wir als Gesellschaft mit diesen Themen umgehen und schließlich der dahinter liegenden IT. Denn das Energienetz der Zukunft ist ein Big Data-Projekt.

In der anstehenden Konferenz wollen Sie erste Ergebnisse präsentieren. Wie sieht Ihre Zwischenbilanz aus?

Wir können von sehr interessanten Fortschritten berichten. Beim Thema Speicher und Netze etwa sind wir schon so weit, dass wir mit Kraftwerksbetreibern darüber reden, wie die Netz-Modelle, die wir entwickelt haben, auf Kraftwerke angewendet werden können. Sehr konkrete Ergebnisse gibt es auch bei der Frage, wie Batterien und Photovoltaik-Systeme gekoppelt werden können, um Sonnenenergie zu speichern. Und wie diese Einheiten in das Netz integriert werden können. Hier arbeiten wir mit Photovoltaik-Anlagen, die Batterien als Speicher verwenden, aber auch mit Feld-Schwungradspeichern, bei denen die Energie mechanisch gespeichert wird. Bei den Batteriesystemen haben wir eine Hardware aufgebaut, die demonstriert, wie das funktionieren kann. Bei den Schwungradspeichern startet jetzt gerade ein Verbundprojekt, in dem wir zeigen wollen, dass es gelingt, ein solches System so zu integrieren, welches den überschüssigen Strom speichert und bei Bedarf in das Netz einspeisen kann. Ein drittes Beispiel aus der Batterieforschung ist ein Modellprojekt, in dem wir zeigen konnten, dass sich eine Kombination aus Redox-Flow- und Lithium-Ionen-Batterien gut in das Netz integrieren lässt. Sie sehen, das sind alles Beispiele, die sehr nah an der Anwendung in unserem Alltag sind.

Das waren Beispiele aus dem Feld Speicher und Netze. Wie sieht es in den anderen Bereichen aus?

Bei den biogenen Energieträgern haben wir mit der bioliq-Anlage (siehe Kasten) hier in Karlsruhe eine echte Schlüsseltechnologie aufgebaut. Damit können wir z.B. trockene Rest- und Abfallstoffe aus der Landwirtschaft so in biogene Energieträger umwandeln, dass sie im Energiesystem Verwendung finden. Das bedeutet, dass sie als Fuels in das Netz - das ja nicht nur ein Stromnetz, sondern ein Energienetz sein wird - eingespeist werden können. Sehr spannend und schwierig zugleich ist der Bereich Nachhaltigkeitsanalyse, wo neben den technischen auch soziale und ökonomische Auswirkungen betrachtet werden.

Sie sagten eben, dass das IT-Netz künftig ein Big-Data-Projekt wird. Was bedeutet das konkret?

Das Thema Big Data und Data Science ist eines, das uns in der Helmholtz-Gemeinschaft stark beschäftigt. Wir haben zum Beispiel ein Prognose-Tool entwickelt, das bereits in einem größeren Kraftwerk im Einsatz ist. Das Tool soll helfen, den Bedarf an Fernwärme richtig zu prognostizieren. Im Strombereich gibt es etwas Ähnliches. Die heutige Praxis sieht hier immer noch so aus, dass die Stromversorger per Telefon miteinander kommunizieren, um abzusprechen, wo etwas zu- oder weggeschaltet werden soll. Wir entwickeln Lösungen, mit denen eine Vorausschau möglich ist. Auch diese Tools sind Ergebnisse, die wir in Partnerschaften einbringen und in konkrete Anwendungen überführen. Die Beispiele zeigen, dass Helmholtz nicht nur für Anwendungen forscht, die in Jahren oder Jahrzehnten konkret werden, sondern auch für ganz aktuelle Problemstellungen.

Und wo könnte es aus Ihrer Sicht schneller vorangehen?

Das Projekt Energiesystem 2050 ist eines, das sowohl technologische als auch organisatorische Grenzen überschreiten muss. Insgesamt sind acht Helmholtz-Zentren beteiligt. Hier arbeiten Menschen aus ganz unterschiedlichen Disziplinen und unterschiedlichen Organisationen zusammen. In diesen unterschiedlichen Communities eine gemeinsame Begrifflichkeit und Sprache zu finden, ist schon eine Herausforderung. Ein anderer schwieriger Punkt ist der, dass die Energiewende sehr häufig mit einer Stromwende gleichgesetzt wird. Das ist nur ein Element. Es geht bei der Energiewende um alle Sektoren - von Strom über Wärme, Kraftstoffe, Mobilität bis hin zur Nachhaltigkeit. Das müssen wir immer wieder deutlich machen. Auch bei externen Partnern, sei es aus der Politik oder der Industrie, hat jeder seine spezielle Sicht. Unsere Aufgabe ist es, immer wieder das Gesamtsystem in das Zentrum zu rücken.

Sie beschäftigen sich auch mit der gesellschaftlichen Akzeptanz der Energiewende...

... richtig. Das ist ein ganz wichtiges Thema. Die beste Idee und die beste Innovation nützt nichts, wenn am Ende der Bürger oder der Kunde nicht bereit ist, eine Veränderung mitzugehen. Bei der Energiewende haben wir den großen Vorteil, dass das Thema positiv besetzt ist. Wichtig ist es, die Gesellschaft mitzunehmen und frühzeitig Bedürfnisse aufzunehmen.

Beim Bau von Überlandleitungen oder Windparks ist das aber schwierig.

Genau. Häufig verhindern lokale Interessen Fortschritte, die aus der Gesamtsicht notwendig sind. Wichtig ist es hier auch, frühzeitig mit NGOs in den Dialog zu treten. Das Ganze muss man methodisch machen. Bei Helmholtz gibt es das Forschungsprogramm Technik, Innovation und Gesellschaft, in dem auch Ethiker und Philosophen als Wissenschaftler beteiligt sind. Die sprechen mit der Bevölkerung in einer ganz anderen Sprache als das ein Naturwissenschaftler oder Techniker tun könnte. Die Akzeptanz ist auch deswegen wichtig, weil das Netz der Zukunft eben ein IT-Netz sein wird. Der Stromzähler wird dann nicht nur zählen, sondern auch erzählen können. Wer hat Zugriff auf die Daten? Was verraten sie über mich und wie sicher sind sie vor unbefugten Zugriffen geschützt? All diese Fragen müssen geklärt werden.

Die Energiewende in Deutschland gilt als Vorbild für andere Länder. Spüren Sie ein internationales Interesse an Ihrer Forschung?

Ganz deutlich. Zum einen an Projektanfragen aus dem europäischen Ausland, aber auch darüber hinaus. Besonders stark ist das Interesse in Polen und Frankreich, wo das Thema Energiewende heute schon ganz anders betrachtet wird als noch vor wenigen Jahren. Interesse gibt es an den technologischen Lösungen, aber auch an dem Prozess, wie die Energiewende umgesetzt wird. Man muss sich immer wieder klar machen: Wir haben uns sehr hohe Ziele gesetzt, wir wollen unser Energiesystem grundlegend umbauen - und das bei laufendem Betrieb! Da wird natürlich genau beobachtet, wie diese Operation am offenen Herzen gelingt.

Sie haben betont, wie wichtig die Kommunikation der Ergebnisse nicht nur innerhalb der Wissenschaft, sondern auch in die Politik für den Erfolg der Energiewende ist. Welche Erfahrungen und Ergebnisse gibt es in diesem Bereich?

Die Politik muss am Ende Entscheidungen auf Basis von Fakten treffen. Unsere Aufgabe ist es, diese Fakten zu liefern und in geeigneter Form an die Politik zu kommunizieren. Was die Energiewende anspruchsvoll und manchmal auch anstrengend macht, sind die verteilten Rollen in unserem föderalen politischen System, mit Länderhoheit und Bundeshoheit. Das merken wir etwa beim Netzausbauplan, wo es entgegengesetzte Interessen - auch zwischen den Ländern - geben kann. Das sind dann Fragen, die politisch geklärt werden müssen. Zum anderen ist das Energiesystem so etwas wie die Schlagader unserer Industrie und Gesellschaft. Das ist der Grund, warum nicht nur das für uns zuständige BMBF, sondern auch das BMWI als verantwortliches Haus für die Energiepolitik maßgeblich beteiligt ist. Das BMU spielt aber auch eine wichtige Rolle. Hier ressortübergreifend die richtigen Ansprechpartner zu finden und mit den richtigen Botschaften zu versorgen, ist schon eine Herausforderung.

Im September wird in Deutschland gewählt. Was erwarten oder erhoffen Sie sich von der nächsten Bundesregierung für das Thema Energiewende?

Wir haben uns mit der Energiewende langfristige Ziele gesetzt. Da ist es unbedingt notwendig, dass diese Ziele auch über Legislaturperioden hinweg mit gleicher Intensität verfolgt werden. Auch mit dem Blick auf die USA und andere Länder, wo wir gesehen haben, wie schnell der Wind sich drehen kann, ist unsere Botschaft an die Politik, Kurs zu halten und das übergeordnete Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Auch zwischen einzelnen Bundesländern gibt es durchaus Unterschiede in der Intensität, mit der die Energiewende vorangetrieben wird. Hier würde ich mir von der Bundespolitik wünschen, dass sie an der einen oder anderen Stelle die Zügel etwas mehr in die Hand nimmt.

Mit der bioliq-Pilotanlage haben KIT-Forscher erstmals Benzin aus Stroh und anderen biologischen Reststoffen hergestellt. Bild: M.Torge/KIT

Das bioliq-Verfahren

Überschüssige Biomasse mithilfe von Wärme und Chemie stufenweise abzubauen und in synthetische Flüssigkraftstoffe umzuwandeln, darum geht es beim bioliq (biomass to liquid)-Verfahren. Das Konzept sieht folgende Schritte vor: Zunächst bringen Landwirte trockenes Stroh oder Holz in eine Umwandlungsanlage in ihrer Region. Dort wird der Rohstoff in nur zwei bis drei Sekunden auf rund 500 Grad Celsius erhitzt. Übrig bleiben Pyrolyseöl und -koks, die zu einem schwarzen Brei vermischt werden, dem sogenannten Biosyncrude. Das energiereiche Gemisch wird anschließend in eine Großanlage transportiert und dort bei Temperaturen von mehr als 1000 Grad Celsius in Synthesegas umgewandelt. Es besteht je zur Hälfte aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid, die in Kraftstoffe oder Grundstoffe für die Chemieindustrie wie Ethylen oder Propylen umgewandelt werden können.  

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