Diabetes
Die Lebensstil-Epidemie
Diabetes trifft immer mehr Menschen: allein in Deutschland mittlerweile mindestens sechs Millionen. Was Ärzte heute wissen, reicht noch nicht, um die „Zucker-Krankheit“ in den Griff zu bekommen. Durch eine frühe Erkennung ließen sich jedoch Folgeschäden leichter verhindern. Auch der diesjährige Weltdiabetestag beschäftigt sich mit dem Thema Früherkennung.
Ähnlich ergeht es vielen Menschen. Die Symptome von Typ-2-Diabetes entwickeln sich oft schleichend. Doch gibt es auch andere Erscheinungsformen: Typ-1-Diabetes kann sich durch Harndrang, Müdigkeit oder Durst bemerkbar machen.
Gemeinsam ist den unterschiedlichen Formen, dass sie Stoffwechselstörungen sind, die zu einem erhöhten Blutzuckerspiegel führen. Zucker ist ein wichtiger Energielieferant. Über das Blut gelangt er in die Zellen. Steigt die Glukosekonzentration im Blut, gibt die Bauchspeicheldrüse Insulin ab. Das öffnet dem Treibstoff den Weg in die Zellen. Wird nicht genügend Insulin produziert oder wirkt es nicht richtig, können die Zellen nur einen Teil der Glukose aufnehmen – der Blutzuckerspiegel steigt. Diabetiker benötigen daher eine Therapie, um den Blutzuckerspiegel zu regulieren. Ansonsten besteht die Gefahr, dass es zu schweren Schäden etwa an ihren Augen, Nieren, am Herz oder Gehirn kommt.
Diabetes ist in Deutschland kein Randphänomen. Ganz im Gegenteil: Es gibt heute rund sechs Millionen Betroffene – und die Dunkelziffer ist noch höher. Schätzungsweise kommt auf jeden Patienten mit Typ-2-Diabetes ein weiterer Erkrankter mit unerkanntem Diabetes, denn die ersten Symptome machen sich oft erst nach Jahren bemerkbar. Matthias Tschöp vom Helmholtz Zentrum München befürchtet eine Epidemie: „In Deutschland ist bald jeder Zehnte an Diabetes erkrankt – oder wird noch daran erkranken.“ Das sind zehn Mal so viele wie noch vor 50 Jahren. Der Trend gehe weiter nach oben, denn mit den heutigen Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten allein lasse sich diese Entwicklung nicht stoppen. Vor fünf Jahren wurde deshalb das Deutsche Zentrum für Diabetesforschung (DZD) gegründet – ein nationaler Verbund von außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Universitätskliniken. Tschöp ist wissenschaftlicher Sprecher des Helmholtz-Diabetes-Zentrums in München, das eine führende Rolle im DZD einnimmt. Die Wissenschaftler arbeiten an neuen Strategien, um die Krankheit frühzeitig zu erkennen und individuell zu behandeln.
Neun von zehn Diabetikern sind am Typ 2 erkrankt. Der frühere Name „Altersdiabetes“ ist längst überholt, denn immer häufiger erkranken auch Kinder und Jugendliche daran. Während beim Typ-1-Diabetes die Insulinproduktion und -ausschüttung nicht mehr funktionieren, sprechen bei Typ-2-Diabetikern die Körperzellen schlechter auf Insulin an. Die Anlage zum Typ-2-Diabetes wird vererbt, doch vor allem Überernährung und Bewegungsmangel haben zur dramatischen Zunahme von Diabetes geführt. „Obwohl natürlich nicht jeder Übergewichtige an Diabetes erkrankt und nicht jeder Diabetiker übergewichtig ist“, sagt Tschöp, „gäbe es ohne eine so weit verbreitete Fettsucht auch keine Diabetes-Epidemie.“
Oliver Sonnet hat durch eine angepasste Ernährung und Sport seine Zuckerwerte wieder in den Normalbereich gebracht. „Nach einer Gewichtsreduzierung konnte ich das Medikament aussetzen“, sagt er. Den meisten Patienten fällt es jedoch schwer, den Lebensstil zu ändern. Müssig hat mit seinem Team deshalb vor drei Jahren ein Grundschulprojekt ins Leben gerufen, das Kinder für mehr Bewegung und eine ausgewogene Ernährung sensibilisiert. Denn auch wenn das Krankheitsrisiko mit dem Alter steigt, werden die Weichen meist viel früher gestellt. „Ein übergewichtiger Jugendlicher hat ein 80-prozentiges Risiko, auch als Erwachsener übergewichtig zu sein“, sagt Müssig
In einer simplen Rechnung erklärt er, warum Vorsorge die wichtigste Waffe im Kampf gegen Diabetes ist: Die jährlichen Therapiekosten für einen mit Insulin behandelten Patienten liegen bei fast 1700 Euro. Mit rund der Hälfte könne man in dieser Zeit eine ganze Schulklasse über ein Präventionsprogramm erreichen. Aber sind gesünderes Essen und mehr Bewegung wirklich genug, um die rasante Ausbreitung von Typ-2-Diabetes zu stoppen? Auch Matthias Tschöp ist vom Nutzen der Aufklärung überzeugt. Allein durch einen anderen Lebensstil würde es jedoch zu lange dauern, Diabetes in den Griff zu bekommen. Im schlimmsten Fall ließe sich die Entwicklung gar nicht mehr umkehren.
Forscher haben herausgefunden, dass auch die Interaktion von Genen mit der Umwelt unsere Anfälligkeit für Diabetes beeinflusst. Äußere Faktoren steuern, welche Gene ausgelesen werden. Je nachdem, welche Proteine der Körper dadurch mehr und weniger produziert, kann dies dazu führen, dass Menschen stärker zu Diabetes neigen.
Zu den sogenannten epigenetischen Umwelteinflüssen zählt Tschöp vor allem, was wir essen und wie wir uns bewegen. Besonders bedrohlich daran ist, dass diese Mechanismen teilweise so programmiert werden, dass sie erst in der nächsten Generation wirken. Mit anderen Worten: Wenn wir heute nur Hamburger essen und den ganzen Tag vor dem Computer sitzen, kann das dazu führen, dass unsere Nachfahren an Diabetes erkranken. Schadstoffe in Luft und Wasser oder psychische Faktoren wie Stress können ebenfalls Einfluss haben – wenn auch in geringerem Umfang. Tschöp betont, dass es für die Diabetesforschung äußerst wichtig sei, diese epigenetischen Mechanismen zu verstehen. „Ansonsten entwickeln wir therapeutische Konzepte, die für die nächste Generation vielleicht schon gar nicht mehr funktionieren.“
Bei der Behandlung von Diabetes werden sich Ärzte zunehmend auf das Gehirn konzentrieren. Dort liegt die Steuerzentrale, die nicht nur Appetit und Sättigung reguliert, sondern auch viele zelluläre Stoffwechselprozesse. Medikamente, die direkt im Gehirn wirken, bergen allerdings Risiken: Sie können unberechenbare Nebenwirkungen wie Depressionen auslösen. Diabetologen wollen das Gehirn daher mit Hormonen austricksen. „Wir versuchen, dem Gehirn indirekt über die Verwendung natürlicher Darmhormone mitzuteilen, wie der Stoffwechsel eingestellt werden soll“, sagt Tschöp. Die in einem Molekül kombinierten Hormone GLP-1, Glucagon und GIP können nicht nur eine vermehrte Insulin-Ausschüttung bewirken, sondern auch den Appetit hemmen und die Fettverbrennung erhöhen.
„Diabetes ist die Folge eines Weges, den die Gesellschaft gegangen ist“
Zukünftige Medikamente müssen genau dort wirken, wo der Stoffwechsel gestört ist, ohne woanders Schaden anzurichten. Tschöp: „Nur mit maßgeschneiderten Behandlungen für besser verstandene Patientenuntergruppen lassen sich die Volkskrankheiten Adipositas und Diabetes besiegen.“ Seinem Team ist es gelungen, Darmhormone mit dem weiblichen Sexualhormon Östrogen zu kombinieren. Bei bestimmten Patienten wirkt sich Östrogen positiv auf den Stoffwechsel aus, es kann aber auch Krebs auslösen. Durch die Kombination mit Darmhormonen können die Forscher eventuell Nebenwirkungen umgehen, indem sie einzelne Organe ansteuern wie mit einem Trojanischen Pferd: „Wir haben es in präklinischen Studien geschafft, auf dem Rücken eines Darmhormons ein Östrogen an die Zellen auszuliefern, die etwas mit dem Stoffwechsel zu tun haben, und von den Zellen fern zu halten, in denen es Schaden anrichten würde“, sagt Tschöp.
Solche Vorstöße im Kampf gegen Diabetes setzen aber eine bessere Diagnostik voraus. Nur wenn Ärzte genau wissen, was wann in welchem Organ passiert, können sie die betroffenen Zellen gezielt ansteuern. Spezielle Biomarker und Sensoren sollen deshalb den individuellen Verlauf der Krankheit sichtbarer machen. Neben Medizinern arbeiten heute Biologen, Chemiker, Mathematiker und Ingenieure daran, dass jeder Diabetiker in Zukunft eine passende Therapie erhält. Deutschland ist damit auf dem Weg, weltweit eine Führungsrolle in der Diabetesforschung einzunehmen. Doch es wird noch einige Anstrengung kosten, die neueste Grundlagenforschung in den klinischen Alltag zu bringen. Bis dahin dürfe man laut Matthias Tschöp nicht vergessen, warum wir heute überhaupt mit dieser Volkskrankheit zu kämpfen haben: „Diabetes ist die Folge eines Weges, den die ganze Gesellschaft gegangen ist. Es ist ein weiter Weg, den wir nur dann zurückgehen können, wenn wir rasch neue therapeutische Konzepte und bessere Technologien entwickeln.“
Diabetesinformationsdienst - ein Service-Angebot für Patienten.
Institute for Diabetes and Obesity am Helmholtz Zentrum München
Leser:innenkommentare