Helmholtz weltweit
Die Kraft des dreckigen Eises
Mikrobiologin Stefanie Lutz untersucht in Grönland, weshalb mitten in der Eiswüste Algen blühen – und wie diese das Schmelzen des Eispanzers zusätzlich beschleunigen.
Als sich die Rotorblätter des Transporthubschraubers zu drehen beginnen und der rote Koloss laut dröhnend vom Eis abhebt, atmet die Mikrobiologin Stefanie Lutz einmal tief durch. Jetzt gibt es kein Zurück mehr! Die nächsten zwei Juliwochen wird sie gemeinsam mit fünf britischen Forschern und einer Potsdamer Kollegin in einem Zeltcamp auf dem Eis des Grönländischen Eisschildes verbringen, 56 Kilometer nördlich des Polarkreises. Die nächste Stadt heißt Kangerlussuaq und ist eine Flugstunde weit entfernt. Die einzige Verbindung in die Zivilisation stellt ein Satellitentelefon dar – für den Notfall und den täglichen Lagebericht. Doch den Gedanken an Eisbären, Gletscherspalten und andere Gefahren verdrängt die Wissenschaftlerin vom Helmholtz-Zentrum Potsdam – Deutsches GeoForschungsZentrum (GFZ) schnell wieder. Stattdessen schweift ihr Blick über die schier unendliche Leere hin zum Horizont, wo sich das Eis und der wolkenlose Himmel berühren. Kaum Wind, die Temperatur knapp unter dem Gefrierpunkt – perfekte Bedingungen für Forschungsarbeiten auf dem Eis!
"Die graue Farbschattierung wird durch Eisalgen hervorgerufen, die in der oberen Eisschicht überwintern und große Algenblüten formen, wenn die Oberfläche schmilzt."
Stefanie Lutz nimmt die Gletscheroberfläche genauer in Augenschein. Nackt liegt ihr der Grönländische Eisschild zu Füßen. Die Sommersonne hat die Schneedecke des vergangenen Winters längst weggeschmolzen. Die Sonnenstrahlen lecken jetzt direkt am Eis und verwandeln die Oberfläche in ein holpriges Mosaik aus Pfützen, Rinnsalen und zahllosen Eis-höckern, die an verwaiste Schneereste vom Straßenrand erinnern. Graue Trübsal statt weißer Pracht. Doch dieses dreckige Eis ist der Grund, warum Stefanie Lutz nach Grönland gekommen ist. "Die graue Farbschattierung wird durch Eisalgen hervorgerufen, die in der oberen Eisschicht überwintern und große Algenblüten formen, wenn die Oberfläche schmilzt", sagt die Mikrobiologin.
Diese grundsätzliche Erkenntnis ist nicht neu. Schon die alten Griechen wussten, dass bestimmte Algenarten im Schnee wachsen und ihn großflächig grün bis rot einfärben können. Polarforscher berichteten erstmals im Jahr 1870 von den graubraunen Eisalgen. Wie viele Arten die Gletscher jedoch besiedeln und wie sie überleben, ist unklar – ebenso die Frage, wie stark ihre Blüten die Schmelze des Eisschilds vorantreiben. "Wir nehmen an, dass die Schnee- und Eisalgen die Rückstrahlkraft der Eisoberfläche von 90 auf bis zu 20 Prozent verringern. Dort, wo die Algen wachsen, reflektiert das Eis die Sonnenenergie nur noch zu einem kleinen Teil. Die restliche Wärme wird absorbiert", erklärt Stefanie Lutz.
Ob diese Schätzungen stimmen, untersucht die Biologin gemeinsam mit Glaziologen, Physikern und Chemikern im interdisziplinären Forschungsprojekt "Black&Bloom", zu dem das Zeltcamp auf dem Eisschild gehört. "Wir wollen am Ende der Feldarbeiten in der Lage sein, das Zusammenspiel von Sonne, Eis und Algen zu modellieren, sodass diese Prozesse schon bald in die großen Klimamodelle einfließen können", erläutert die Potsdamerin. Denn Fakt ist: Der Grönländische Eisschild verliert seit dem Jahr 1992 mehr Eis, als sich aufgrund der globalen Erwärmung erklären lässt. Es muss also weitere Einflussfaktoren geben – die Algenblüten sind vermutlich einer davon.
"Das Schmelzen ist eine echte Herausforderung, weil wir das Eis nicht erhitzen dürfen."
Aus diesem Grund schnürt sich die blonde, sportliche Wissenschaftlerin an jedem Morgen die Spikes unter die Wanderstiefel und bricht zur Probennahme in das abgesteckte Messfeld sowie in die nähere Camp-Umgebung auf. Im Rucksack trägt sie ihre Arbeits-utensilien: einen Fotoapparat, Gummihandschuhe, sterilisierte Probentütchen, einen Eispickel, eine Sandkastenschaufel und Ethanol, mit dem sie ihr Werkzeug vor jeder Probennahme reinigt. Interessant sind nur die oberen drei bis vier Zentimeter Eis, die Stefanie Lutz an jeder Probenstelle herausschlägt. Drei bis fünf Kilo Eis füllt sie pro Station in ihre Tüten.
Zurück im Camp, müssen das von Algen durchsetzte Material geschmolzen und die Mikro-organismen herausgefiltert werden. "Das Schmelzen ist eine echte Herausforderung, weil wir das Eis nicht erhitzen dürfen. Es muss von allein schmelzen – und das dauert im Zelt oft mehrere Tage", erzählt die 31-Jährige. Frustriert von der Warterei, wickelt sie die Proben in schwarze Plastiktüten ein – in der Hoffnung, auch den letzten Wärmestrahl einzufangen. Die Sonne schmilzt vor allem das frei liegende Eis an der Gletscheroberfläche. Bis zu sechs Zentimeter fehlen an jedem Abend, sodass die Zelte der Wissenschaftler nach drei Tagen auf einem 20 Zentimeter hohen Hügel stehen und versetzt werden müssen – an einen neuen, zuvor eingeebneten Standort. Mit jedem Sommertag, den Stefanie Lutz vor Ort ist, wird die Oberfläche des Eisschilds dunkler. "Die Algenkonzentration war am Ende an einigen Stellen so hoch, dass wir in einem Milliliter geschmolzenen Eises bis zu 10.000 Eisalgen gezählt haben", erzählt sie. Diese Zahl erklärt, warum die Wissenschaftler den schneefreien Rand des Grönländischen Eisschildes als "dark zone" bezeichnen: Das Eis ist hier wegen der Algen wirklich dunkler als im Landesinnern und schmilzt schneller als die weißen Eismassen im Zentrum des Eisschildes.
Mit dem Klimawandel vergrößert sich außerdem der Wirkungsbereich der Eisalgen. Zum einen beginnt die Schneeschmelze früher im Jahr – das heißt, die Algenblüte setzt eher ein, wodurch die Einzeller länger Zeit haben, sich auszubreiten. Zum anderen zieht sich die Schneegrenze kontinuierlich ins Landesinnere zurück. Unter diesen Voraussetzungen können einzelne Eisalgen, getragen vom Wind, auch entlegene Bereiche des Eisschildes erreichen und dort eine neue Blüte starten. Als Stefanie Lutz nach ihrem Abschied aus dem Camp noch ein paar Proben an der Schneegrenze nehmen will, muss sie mit dem Hubschrauber 100 Kilometer landeinwärts fliegen, bis sie schneebedeckte Eismassen erreicht. Zurück in Potsdam, genießt die Biologin zuerst einmal eine heiße Dusche. "Nach 14 Tagen auf dem Eis fühlt sich fließend warmes Wasser wie ein echter Luxus an. Im Camp gab es nur eine kurze Katzenwäsche mit Wasser aus dem Wasserkocher", erzählt sie. Ihr Probenmaterial durchläuft in den Laboren viele Analysen. Stefanie Lutz extrahiert unter anderem die Eisalgen-DNA und bestimmt die Artenvielfalt. Die Ergebnisse bestätigen ihre vorherigen Arbeiten: "Es gibt auf der Welt zwei dominante Eisalgenarten, die auch auf dem Grönländischen Eisschild für die Eisverfärbungen verantwortlich sind. In den Schneeproben haben wir zudem fünf der sechs typischen Schneealgenarten gefunden, wenn auch nur in sehr geringer Konzen-tration", berichtet die Wissenschaftlerin.
"Die Algenkonzentration war am Ende an einigen Stellen so hoch, dass wir in einem Milliliter geschmolzenen Eises bis zu 10.000 Eisalgen gezählt haben."
Die Ergebnisse zur Biodiversität der Eis- und Schneealgen Westgrönlands verarbeitet Stefanie Lutz derzeit zu einem Fachartikel. Außerdem hat sie die Daten an ihre Black&Bloom-Kollegen an der Universität Bristol geschickt. Diese werden die Zahlen in das erste Computermodell integrieren, welches die Wechselwirkungen zwischen Algen, Eisschild und Sonne simulieren wird. Gemeinsam sollte das Black&Bloom-Team also schon bald in der Lage sein, den Einfluss der Eisalgen auf die Gletscherschmelze in Grönland genau und großflächig zu beschreiben.
Leser:innenkommentare