Interview
„DESY ist ein ganz besonderer Ort“

Beate Heinemann ist seit April 2025 die neue Leiterin des Deutschen Elektronen-Synchrotrons DESY. Bild: DESY, Angela Pfeiffer
Die neue DESY-Vorsitzende Beate Heinemann über die Herausforderungen am Zentrum, ihre Erfahrungen aus den USA – und den Aufstieg ihres Lieblings-Fußballvereins.
Frau Heinemann, Sie waren schon als Schülerin das erste Mal bei DESY. Wie war’s?
Ganz ehrlich: Ich habe wenig verstanden. Wir haben uns im Physik-Leistungskurs vor allem mit Mechanik und Elektromagnetismus beschäftigt, von dort aus ist es ja noch einmal ein ganzes Stück bis zum Level der Teilchenphysik (lacht). Aber ich erinnere mich vor allem an die Begeisterung, mit der man uns alles erzählt und gezeigt hat. Das war richtig beeindruckend.
Dass Sie schon im Physik-Leistungskurs waren, zeigt aber ja, dass Sie nicht erst für die Physik begeistert werden mussten, oder?
Das stimmt. Ich habe immer wahnsinnig gern Mathe gemacht, habe viel gerechnet – aber das Rechnen nur um des Rechnens Willen, das fand ich dann doch nicht so attraktiv. Ich wollte lieber etwas ausrechnen, das eine praktische Relevanz hat. Hinzu kam, dass wir einen mitreißenden Physiklehrer hatten. Nach der Schule war ich dann aber sehr unsicher, was ich machen wollte, da ich auch viel Respekt vor Physik hatte, habe mich dann aber nach einem „Gap Year“ als Au-Pair-Girl in Spanien dann doch dafür entschieden.
Machen wir einen Zeitsprung in die Gegenwart. Sie kannten DESY natürlich auch schon vor Ihrem Amtsantritt als Vorsitzende, aber was hat Sie seither überrascht?
Ganz klar: Die Belegschaft macht DESY zu einem ganz besonderen Ort – und damit meine ich nicht nur die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sondern auch alle, die sich zum Beispiel in der Verwaltung oder im Ingenieurswesen engagieren. Ich finde, es sagt schon alles, dass man sich hier als „Desyaner*in“ bezeichnet – die Identifikation ist wirklich gewaltig und die Fluktuation ist gering. Wir hatten gerade jetzt einen Führungskräftetag, und die Leute sollten sich nach der Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit aufstellen…
…da waren Sie diejenige mit den wenigsten Jahren bei DESY, oder?
(lacht) Ich war schon bei den Dienstjüngeren, bin aber auch nicht mehr ganz neu: Ich habe hier meine Doktorarbeit geschrieben und bin ja auch schon vor acht Jahren aus den USA hierher zurückgekehrt. Aber da waren tatsächlich Leute dabei, die seit 38 Jahren bei DESY arbeiten. Das ist ein tolles Zeichen.
Das klingt so, als gebe es nicht mehr viel für Sie zu tun.
Wenn Sie damit meinen, dass wir enorm gut aufgestellt sind, dann haben Sie Recht. Aber das heißt nicht, dass es langweilig wird, im Gegenteil: Wir haben sehr viele Forschungs- und Bauprojekte, an denen wir im Moment arbeiten und die fertig werden müssen. Unser Anspruch ist ja Weltspitze zu bleiben und das geht nur durch ständige Weiterentwicklung. Das größte unserer Projekte heißt PETRA IV…
…die neue Röntgenstrahlungsquelle, die sich aber noch im Planungsstadium befindet…
…und unheimlich wichtig für Europa ist. PETRA IV wird meine Zeit in den nächsten Jahren sicher am meisten beanspruchen – damit es zum einen auch tatsächlich von der Bundesregierung ausgewählt und gefördert wird, und damit wir es zum anderen auch innerhalb des Budgets und Zeitplans ausführen. Mit dem Upgrade der Röntgenlichtquelle auf die 4. Generation können wir fast 1000 mal mehr leisten als mit der jetzigen Anlage, sowohl in der Grundlagenforschung als auch für Innovation und Transfer in die Wirtschaft.
Dabei haben Sie doch jetzt schon mit PETRA III eine der besten Röntgenlichtquellen der Welt.
PETRA III war vor zehn Jahren die beste Röntgenquelle der Welt, aber vor fünf Jahren wurde sie in Europa von der ESRF überholt, und inzwischen gibt es auch in den USA und in China je eine bessere Anlage. Und viele weitere Anlagen, zum Beispiel in Großbritannien und Frankreich werden auch bald die Qualität von PETRA III erreichen oder übertreffen.
Warum brauchen wir in Deutschland dann auch noch eine solche Röntgenquelle?
Unser Anspruch ist, die weltbeste Anlage zu haben, da man nur so auch die besten Wissenschaftler*innen weiterhin zu DESY und nach Deutschland locken kann. PETRA IV wird einen Nanofokus ermöglichen, mit dem beispielsweise biologische Prozesse in Organen in Echtzeit und unter realen Bedingungen untersucht werden können. Auch im Bereich für die Entwicklung von Quantenmaterialien oder Halbleiter wird PETRA IV einmalige Einsichten generieren: ganze Mikrochips können innerhalb weniger Tage auf Nanoebene komplett durchleuchtet werden. Ein Prozess, der heute an PETRA III fast drei Jahre in Anspruch nehmen würde. PETRA IV wird die einzige vergleichbare Anlage in Europa sein und ist notwendig, um im internationalen Wettbewerb mit China und den USA mitzuhalten. Insbesondere in der Verbindung mit den neuen Möglichkeiten von Künstlicher Intelligenz werden die mit PETRA IV gewonnenen Daten revolutionäre Entwicklungen in Forschung und Innovation ermöglichen.
Sie haben viele Jahre in den USA geforscht, an der Universität in Berkeley. Glauben Sie, dass DESY in der heutigen Situation von den Unsicherheiten im dortigen Wissenschaftssystem profitieren kann?
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Wissenschaft überall auf der Welt leiden wird, wenn es in den USA zu Kürzungen kommt. Jede Schwächung dort betrifft zugleich das ganze Wissenschaftssystem. Es gilt aber auch, Programme zu entwickeln, um hervorragenden Talenten aus den USA eine Perspektive zu bieten. Insbesondere Post-Doc-Stellen werden voraussichtlich in Folge der Kürzungen in den USA abgebaut werden und es wäre gut, wenn wir hier mehr Möglichkeiten bieten könnten.
Sind Sie schon in konkreten Gesprächen?
Natürlich habe ich viele enge Kontakte aus meinen mehr als zehn Jahren in den USA. Ich bin auch dankbar, dass die Helmholtz-Gemeinschaft jetzt ein kleines erstes Programm aufgelegt hat, mit dem wir in Deutschland Stellen anbieten können. Ob die Leute dann hinterher in die USA zurückgehen oder in Europa bleiben, ist noch dahingestellt – aber es wäre ein Drama, wenn diese hervorragenden Leute für die Wissenschaft verloren gingen.
Was hat Ihnen die Zeit in den USA in wissenschaftlicher Hinsicht gebracht?
Sie war in vielerlei Hinsicht prägend. Es herrscht dort eine größere Agilität, eine größere Risikobereitschaft. Mich haben die flachen Hierarchien sehr beeindruckt, die ich damals aus Deutschland so nicht kannte – ich bin ja Ende der 1990er Jahre zum ersten Mal in die USA gewechselt. Und natürlich diese Attitüde des „Go big or go home“.
Sie hatten auch in den USA eine vielversprechende Karriere begonnen. Was hat Sie wieder zurückgelockt nach Europa?
Zwei Dinge waren wichtig: Erstens die Helmholtz-Rekrutierungsinitiative, wie das Programm damals noch hieß, die mir finanziell gute Möglichkeiten geboten hat. Und zweitens fand ich es attraktiv, dass in Deutschland von allen demokratischen Parteien rational über Wissenschaft diskutiert wird. In den USA ist das anders. Die Polarisierung zwischen den beiden Parteien betrifft dort auch die Wissenschaft, und das war schon damals so – wenngleich natürlich die Teilchenphysik weniger davon betroffen ist als etwa die Klimaforschung. Aber letztlich gibt es dort leider oft keine rationale Diskussion. Und hier in Deutschland ist die Wissenschaft durch den Pakt für Forschung und Innovation viel internationaler geworden, die Qualität hat sich daher gewaltig verbessert. Dadurch ist das Gefälle zwischen den USA und Deutschland heute wesentlich geringer als noch in den 1990er Jahren.
In Ihrer neuen Funktion kommen Sie selbst nicht mehr viel zur Forschung. Wird Ihnen das fehlen?
Ich lerne gerade jetzt in dieser Phase unheimlich viel, und zwar außerhalb meines engen Spezialgebiets. Das passt für mich sehr gut: Ich fand immer viele Sachen spannend, so dass mir eine sehr starke Spezialisierung immer eng vorkam. Jetzt lerne ich ganz viel Neues, lasse mir von vielen Leuten erzählen, woran sie arbeiten und beschäftige mich damit, ihnen die Forschung zu ermöglichen. Ich fühle mich damit wie im Schlaraffenland.
Das gilt sicher auch in anderer Hinsicht: Der HSV ist gerade aufgestiegen, dessen Fan Sie ja schon seit Jahrzehnten sind. Haben Sie das entscheidende Spiel gesehen?
Aber natürlich! Wann immer es geht, schaue ich mir die Spiele mit meinem Vater zusammen im Fernsehen an, er ist inzwischen 91 Jahre alt und die Fußball-Abende haben bei uns eine lange Tradition. Nach dem Sieg haben wir zusammen auf den Aufstieg angestoßen.
Beate Heinemann ist seit April 2025 die neue Leiterin des Deutschen Elektronen-Synchrotrons DESY. Die Teilchenphysikerin, die in der Nachbarschaft des DESY aufgewachsen ist, ist die erste Frau an der Spitze des Forschungszentrums. Nach Studium in Promotion in Hamburg forschte sie an der University of Liverpool und wurde 2006 zur Professorin für Experimentalphysik an der University of California in Berkeley. 2016 kehrte sie nach Deutschland zurück, ab 2022 war sie Direktorin für Teilchenphysik bei DESY.
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