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SARS-CoV-2

Der Corona-Effekt

Bild: picture alliance/Marcella Winograd/Cover Images

Während in den vergangenen Wochen die Forschung an SARS-CoV-2 auf Hochtouren lief, hatte das Virus das Leben, wie wir es kennen, schlagartig zum Stillstand gebracht. Nur sehr behutsam kam es wieder in Bewegung. Eins ist klar: Die Corona-Krise wird uns noch lange beschäftigen. Und vermutlich das Verhältnis der Wissenschaft zu Gesellschaft und Politik nachhaltig verändern.

Dirk Heinz, wissenschaftlicher Geschäftsführer des HZI (Zweiter von rechts) und Virologin Melanie Brinkmann (rechts) führten Bundesforschungsministerin Anja Karliczek über das Gelände. Bild: HZI/Verena Meier

Natürlich freut sich Dirk Heinz über die Briefe und Mails, die massenhaft am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig eingegangen sind: Stolz klingt aus ihnen heraus, der Stolz vieler Bürger, dass es in ihrer Region ein solches Forschungszentrum gibt. Dirk Heinz ist der wissenschaftliche Geschäftsführer des HZI, und er schiebt gleich eine Einschränkung hinterher: Solche Zuschriften dürften die Wissenschaft natürlich nicht dazu verführen, die eigene Rolle zu überschätzen. „Die Arbeit der Forscher muss absolut seriös sein, an Spekulationen dürfen wir uns nicht beteiligen.“

Es ist ein schwieriger Spagat, den Dirk Heinz beschreibt: Wohl selten waren die Erwartungen und die Hoffnungen an Wissenschaftler so gewaltig wie während der Corona-Pandemie. Ohne die Forschung, ohne die wissenschaftlichen Einrichtungen wird es kein Medikament und keinen Impfstoff geben – das ist allen klar. 

„Die gesellschaftliche Anerkennung für die Wissenschaft hat in den vergangenen 20, 30 Jahren etwas nachgelassen“, sagt Armin Grunwald und stellt fest: „Jetzt wird sie wieder stärker.“ Der Physiker und Philosoph leitet das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am Karlsruher Institut für Technologie; seit Jahrzehnten schon beschäftigt er sich mit den Wechselwirkungen von Technik, Forschung und Gesellschaft. Seine Prognose: Die Corona-Krise wird innerhalb dieses Beziehungsdreiecks spürbare Folgen hinterlassen.

In der Corona-Zeit habe die Digitalisierung indes ihre gewaltigen Vorteile gezeigt – „auf einmal geht vieles, was vorher jahrelang nicht ging“.

Erstens sei die Situation akut: „Beim Klimawandel wissen die Politiker, dass das Problem zu ihren Lebzeiten nicht seinen Höhepunkt erreicht – da erhöht man eben die Deiche ein wenig, den Rest überlässt man der nächsten Generation. Aber das Corona-Virus ist ein ganz neuer Problemtypus.“ So wenig sinnvoll das Verschieben ist, wenn es um die Klimakrise geht – bei der Pandemie ist es schlicht nicht möglich. Sie erfordert eine sofortige Reaktion, und jeder Fehler rächt sich umgehend. Was bedeutet das für die Wissenschaft? „Wichtig ist, dass wir hier genauso interdisziplinär arbeiten, wie wir das auf so vielen verschiedenen anderen Feldern auch tun. Es reicht nicht, die Virologen zu hören – wir brauchen jetzt auch Sozialwissenschaftler, Verhaltenspsychologen, Ökonomen und viele andere“, sagt Armin Grunwald. 

Zweitens: Die Gesellschaft muss es aushalten, dass die Wissenschaftler kein Patentrezept liefern können – und auch, dass aus der Wissenschaft teils gegenläufige Stellungnahmen und Vorschläge kommen. „Bei uns in der Technikfolgenabschätzung bezeichnen wir das als Expertendilemma.“ Die Erklärung dafür liege in der Art, wie Forschung funktioniere: „Unser Wissen schlägt sich in Lehrbüchern nieder, dabei handelt es sich um stabiles Wissen – aber aus der Vergangenheit. Wir ziehen Schlüsse aus Geschehnissen und Beobachtungen, die hinter uns liegen. Wissenschaftler sind im Grunde in erster Linie Experten für die Vergangenheit.“ Laut Armin Grunwald stelle die Corona-Pandemie eine völlig neuartige Situation dar – die Wissenschaft wird die vielen Fragen, die sich stellen, deshalb erst in Monaten oder Jahren sicher beantworten können. Welche Wissenschaftler aber finden Gehör – sind es immer nur die mit den schillerndsten Thesen?

<p>„Wichtig ist, dass wir hier interdisziplinär arbeiten. Es reicht nicht, die Virologen zu hören.“</p><p></p>
Armin Grunwald, ITAS

Und schließlich, sagt er, dränge sich ihm die Parallele zu einer Untersuchung auf, die er unlängst als Leiter des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag verantwortet hatte: Was passiert, so lautete die Fragestellung für das Szenario, wenn es in Deutschland zu einem längeren Stromausfall käme? „Die Folgen wären verheerend, weil so viele Bereiche des Lebens auf Technik, auf digitale Steuerung angewiesen sind – und die fielen komplett aus.“ Da sieht er eine Parallele zur derzeitigen Corona-Situation. Man habe „zu wenige Pläne B“, kritisiert er: „Wir sind eine Gesellschaft, die von der Hand in den Mund lebt. Wenn man Hunger hat, geht man etwas einkaufen, während früher eine Speisekammer selbstverständlich war. Was mich wundert, ist nur, dass das offenbar auch für die Wirtschaft gilt: dass schon nach wenigen Wochen bei vielen Unternehmen keinerlei Puffer mehr da ist.“

In der Corona-Zeit habe die Digitalisierung indes ihre gewaltigen Vorteile gezeigt – „auf einmal geht vieles, was vorher jahrelang nicht ging“, sagt er mit Blick auf Homeoffice und schulische Lehre. Einige dieser Dinge würden ohne Frage bleiben, wenn die Pandemie vorbei ist. „Aber wir erkennen eben auch, dass das Digitale nur ein Ersatz ist. Bei manchen Dingen funktioniert es gut, bei anderen ist es erbärmlich.“

Eine Helmholtz-Forscherin, die sich intensiv mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise beschäftigt, ist Katrin Amunts. Die Hirnforscherin vom Forschungszentrum Jülich war bis zum Auslaufen ihrer zweiten Amtszeit im April die tellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrats. Unter anderem beschäftigt sie die Frage, was die Unsicherheit mit den Menschen macht. Denn die Prognosen, wie lange die Krise anhalten wird, unterscheiden sich stark – die Spannweite reicht von einigen Monaten bis zu mehreren Jahren. Wird die Corona-Pandemie unsere Gesellschaft verändern? „Den Eindruck habe ich persönlich schon“, sagt Katrin Amunts, „und nehme auch wahr, dass es vielen so geht.“ Die Verwundbarkeit der Lebensweise werde offengelegt, aber die Krise könnte auch die Chance in sich tragen, das Land und die Gesellschaft zu stärken. „Wir werden wissen, was wir gemeinsam durchstehen können“, glaubt sie. 

Hirnforscherin Katrin Amunts vom FZ Jülich beschäftigt die Frage, was die Unsicherheit mit den Menschen macht. Bild: FZ Jülich/Sascha Kreklau

Katrin Amunts war federführend dabei, als der Ethikrat Ende März eine Ad-hoc-Empfehlung mit dem Titel „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“ veröffentlichte. Auf Initiative der Politik: Der Bundesgesundheitsminister hatte den Rat um eine Einschätzung zur Pandemie und den gesellschaftlichen Folgen gebeten. Zwei Dutzend hochkarätige Experten gehören dem Ethikrat an, sie stammen unter anderem aus den Bereichen Philosophie, Jura, Theologie und natürlich Medizin. Er erarbeitet Stellungnahmen und Empfehlungen zu ganz unterschiedlichen Themen. Und: Wurde hinter den Kulissen heftig gestritten, wie mit Corona umzugehen sei? „Die Perspektiven der Ratsmitglieder unterscheiden sich natürlich, und es wird mitunter kontrovers diskutiert“, sagt Katrin Amunts diplomatisch. Das Papier des Ethikrats gibt Orientierungspunkte für den Kampf gegen Corona – und bezieht konkret auch die Wissenschaft mit ein. Die „Unterstützung von interdisziplinärer Forschung zu sozialen, psychologischen und anderen Effekten“ wird ausdrücklich gefordert. Und die Autoren zeigen auch die Grenzen der Wissenschaft auf: „Es widerspräche dem Grundgedanken demokratischer Legitimation, politische Entscheidungen an die Wissenschaft zu delegieren und von ihr eindeutige Handlungsanweisungen für das politische System zu verlangen“, heißt es dort: „Gerade schmerzhafte Entscheidungen müssen von den Organen getroffen werden, die hierfür durch das Volk mandatiert sind.“

Dirk Heinz vom HZI in Braunschweig hat klare Vorstellungen davon, was die Wissenschaft in der Krise leisten kann – und was sie nicht leisten darf. Sein erster Punkt: „Forscher müssen sicherstellen, dass ihre Kommunikation auf Fakten basiert. 
Mit politischen Folgerungen sollten sie sich zurückhalten.“ Dass also beispielsweise die Lockerung von Corona-Maßnahmen verfrüht sei, gehöre zu jenen Urteilen, die der Politik zustünden und nicht den Fachwissenschaftlern. 

„Wir haben vergessen, dass wir anfällig sind für Viren und Infektionen, weil sie dank der medizinischen Fortschritte keine gravierende Rolle mehr gespielt haben.“

Zu ähnlicher Zurückhaltung rät er im Kontakt mit Politikern: „Da sollten wir nicht Versprechungen machen, die die Forschung nicht halten kann“, sagt er – und bringt es auf die englische Formel: „Underpromise and overdeliver!“ Wie aber lässt sich mit dem gewaltigen Erwartungsdruck umgehen, möglichst schnell ein Medikament oder gar einen Impfstoff zu entwickeln? Die hohe Geschwindigkeit schließlich steht im Gegensatz zu den obersten wissenschaftlichen Prinzipien, die mit sorgfältiger Prüfung und nachvollziehbarer Datensammlung zu tun haben. Nein, sagt Dirk Heinz, an diesen Prinzipien dürfe nicht gerüttelt werden, um schnellere Ergebnisse zu erzielen. Hilfreich sei etwas anderes: Dass derzeit Arbeitsgruppen aus aller Welt so eng zusammenarbeiten, dass sich selbst die Teams konkurrierender Pharmafirmen kurzschlössen – das sei das Rezept, um unter Einhaltung sämtlicher wissenschaftlicher Standards zu einem raschen Ergebnis zu kommen. „Die vielen parallelen Aktivitäten können den Erkenntnisgewinn rasant beschleunigen“, so formuliert er es. Und ganz nebenbei könnten die Erfahrungen aus dieser Phase dazu beitragen, dem Open-Access-Prinzip zum Durchbruch zu verhelfen.

Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen untersucht eine HZI-Forscherin eine mit SARS-CoV-2 infizierte Zellkultur (grün fluoreszierend). Bild: HZI/Susanne Talay

Mit Blick auf die langfristigen Auswirkungen von Corona auf die Wissenschaft sind sich Dirk Heinz, der Strukturbiologe, und der Technikfolgen-Spezialist Armin Grunwald absolut einig: „Wir haben vergessen, dass wir anfällig sind für Viren und Infektionen, weil sie dank der medizinischen Fortschritte im 20. Jahrhundert in der westlichen Welt keine gravierende Rolle mehr gespielt haben“, schlussfolgert Dirk Heinz und sagt eine Renaissance der Infektionsforschung voraus. Armin Grunwald geht noch einen Schritt weiter: „Wir erleben gerade hautnah, wie entscheidend Vorsorgeforschung ist. Man kann viele entscheidende Fragestellungen künftig nicht mehr bequem verdrängen nach dem Motto: ‚Das wird uns schon nicht passieren!‘“ Diese Erfahrung werde die 
Forschungspolitik der kommenden Jahre nachhaltig prägen. 

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