Brexit-Kommentar
„Das wird ein zähes Ringen“
Das Undenkbare ist eingetreten: Großbritannien verlässt die EU. Die Folgen – auch für die Wissenschaft – sind kaum absehbar. Ein Kommentar von Annika Thies, Leiterin des Helmholtz-Büros Brüssel.
Eine tröstende Botschaft in dieser undurchsichtigen Situation ist immerhin: Es ist davon auszugehen, dass bereits bewilligte EU-Projekte weiterlaufen werden und die unterzeichneten Förderverträge Bestandschutz haben. Niemand sollte sich also um den unmittelbaren Fortlauf seines Verbundprojektes sorgen müssen, falls der Koordinator aus Großbritannien kommt – und kein Projektpartner wird plötzlich wegfallen, weil die EU-Kommission ihn einfach von ihren Listen streicht. Welche Aufenthaltsgenehmigungen der deutsche ERC-Grantholder an einer britischen Universität zukünftig brauchen wird, ist allerdings schon weitaus weniger klar.
So hieß es andersherum schon vor dem Referendum von manchen Briten, die lange in Brüssel leben, dass sie im Brexit-Fall die belgische Staatsbürgerschaft beantragen wollen, um weiterhin EU-Bürger sein zu können. Es sind solche mittelbaren Konsequenzen, die schwer abzuschätzen sind und die in der nächsten Zeit viel Unsicherheit schaffen werden – selbst wenn wir optimistisch davon ausgehen, dass keine destruktiven Dominoeffekte in anderen Mitgliedstaaten auftreten. All das ist das Gegenteil dessen, was Europa braucht. Und es ist das Gegenteil dessen, was ein Wissenschaftssystem zum viel besagten „Motor für Wachstum und Innovation“ macht.
Mittelfristig wird der „Brexit“ sowohl für Großbritannien als auch für die neue EU-27 vermutlich noch viel einschneidendere Folgen haben – und das gilt auch für das europäische Wissenschaftssystem. Wie geht es zum Beispiel in den vielen europäischen Forschungskooperationen weiter, an denen Großbritannien sich beteiligt, wie z.B. den Joint Technology Initiatives - und können die wichtigen britischen Universitäten künftig noch an EU-Projekten beteiligt werden? Zu wünschen wäre es den Forschenden, daß Großbritannien und die EU möglichst viele Sonderregelungen aushandeln werden. Etwa in der Frage von Arbeitserlaubnissen oder Aufenthaltsgenehmigungen oder wenn es um die Nutzung von Forschungsinfrastrukturen und das gemeinsame Forschen in Verbundprojekten geht. Denkbar wären Regelungen, wie sie bereits mit etlichen Ländern getroffen wurden, die nicht in der EU sind, aber derzeit assoziiert am europäischen Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020 teilnehmen: So sind z.B. auch Forschende aus Israel oder Norwegen förderberechtigt. Politisch konsequent wäre das zwar nicht, aber der Sache, also der Forschung, durchaus dienlich.
Und die Geschäfte in Brüssel selbst? Es ist noch schwer vorstellbar, dass im Europäischen Parlament irgendwann 73 Abgeordnete, so groß ist die britische Delegation, weniger sitzen werden. Dass der britische Kommissar für Banken, Jonathan Hill, seinen Platz räumt. Dass der Ausschuss der Regionen gleich etliche Regionen und mit ihnen 24 britische Vertreter verlieren wird. Warum „irgendwann“? Zunächst müssen beide Seiten überhaupt die Einzelheiten des Austritts aushandeln. Dafür ist eine Frist von zwei Jahren gesetzt, die sogar verlängert werden kann. Schließlich muss das Austrittsabkommen noch im Rat von den EU-27 und durch das Europaparlament abgesegnet werden. Das wird ein zähes Ringen.
Eigentlich hätte das Vereinigte Königreich turnusgemäß im Juli 2017 für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Womöglich könnten nun die folgenden Länder vorrücken – die Liste steht bis einschließlich 2020 – und Deutschland dann seine nächste Ratspräsidentschaft in der ersten statt in der zweiten Jahreshälfte 2020 übernehmen. Nur eine kleine Verschiebung? Bedeutungslos für die Forschung? Womöglich nicht, werden in dieser Zeit doch voraussichtlich auch die letzten Details des Nachfolgeprogramms von Horizon 2020 verhandelt.
Ein Programm, das dann – davon muss man heute ausgehen – ohne britische Beteiligung stattfinden wird. Werden keine klugen Sonderregelungen gefunden, drohen sowohl der britische Budgetanteil als auch die wissenschaftliche Expertise zu fehlen. Der ERC hat sich in den letzten Jahren zu einem besonders greifbaren Benchmark entwickelt und seine Grants sind umkämpft. Egal ob im aktuellen oder im vergangenen Rahmenprogramm – regelmäßig lag das Vereinigte Königreich auch in den ERC-Statistiken auf Platz eins. Wir hätten unsere Konkurrenz gerne behalten.
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